Die Kollegin warnte vor dem Interview mit Dirk Baecker: «Pass auf, dass es nicht zu verkopft wird.» Sie hat ja recht. Dirk Baecker, das ist der Kulturtheoretiker, der versucht, Kultur in mathematische Formeln zu fassen, und statt von Menschen von «Beobachtern» spricht.
Wie wird das nur, wenn man mit ihm über ein kompliziertes Thema wie «Wirklichkeit» spricht? Wir haben es getan und mussten ziemlich Gas geben, um mitzukommen. Doch das Gespräch bewegte sich, gottlob, immer wieder in der Wirklichkeit, in der wir uns zu Hause fühlen. Zumindest ein bisschen.
Dirk Baecker, kaum jemand weiss mehr, was wirklich und was erfunden ist. Journalistinnen und Politiker streiten über Fake News und darüber, welche Theorien noch Wissenschaft und welche bereits Verschwörungstheorien sind. Helfen Sie uns: Wie erkennen wir die richtige Wirklichkeit?
Diese Frage erwischt mich auf dem falschen Fuss.
Weshalb?
In der Soziologie weiss man nichts von dieser einzig wahren Wirklichkeit. Alles ist eine Frage der Perspektive. Was ich als richtig und wirklich empfinde, ist für jemand anderen möglicherweise ganz unwirklich.
Es gibt ja aber schon Fakt und Fiktion, oder? Nehmen wir eine berühmte Fake News aus dem US-Präsidenten-Wahlkampf 2016: Pizzagate, also das Gerücht, dass Hillary Clinton an einem Pornoring in einer Pizzeria beteiligt gewesen sein soll. Das ist doch nicht wahr.
Es gibt Leute, die das glauben, für die ist das Wirklichkeit. Also sind Fake News in der Tat schon alternative News und diese alternativen News sind für den, der sie glaubt, vielleicht wahre News.
Wenn das so ist, habe ich als Journalistin ja einen Freibrief: Ich kann einfach schreiben, was ich als wahr empfinde, und dann sagen: Das ist meine Wirklichkeit, fertig.
Nein, denn man vergleicht das, was Sie schreiben, mit dem, was man woanders lesen kann. Wenn Sie die Einzige sind, die etwas als wirklich beschreibt, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es nur Ihre Wirklichkeit ist. Und dann könnte ich mich dafür interessieren, aus welchen Gründen das für Sie wirklich ist. Ich erfahre dann zwar nichts über die Welt, aber etwas über Sie. Oder eben die Leute, die glauben, dass Hillary Clinton an einem Pornoring beteiligt war.
Wer ist das, der an einen Pizza-Pornoring glaubt?
Letztlich nur Leute, die daran glauben wollen. Es passt in ihr Weltbild.
Gemäss CNN haben Millionen Menschen das Gerücht über soziale Medien wie Facebook gelesen.
Ja, aber die Leute sind nicht blöd, sie glauben nicht jedes Gerücht, das die Trumpkonsorten von irgendwelchen russischen Medien übernehmen und streuen. Das ist wie mit allen Gerüchten: Wir lieben es, zu hören, was unser Nachbar angestellt haben soll. Aber wir glauben nie restlos daran, selbst wenn wir es gerne würden.
Sind Sie sicher? Gerüchte haben eine grosse Macht, man spricht nicht umsonst auch von Rufmord.
Stanford-Wissenschaftler haben untersucht, wie gering die tatsächliche Wirkung von Fake News auf Facebook oder Twitter ist. Geteilt werden eher die Nachrichten, die man mag und weniger diejenigen, die man nicht mag.
Trotz des Traumas des Nationalsozialismus.
Ja.
Wollen wir wirklich Wirklichkeiten, in denen man gegen Ausländer hetzt?
Das heisst nicht, dass man sie wählen muss. Aber sie müssen in der Politik vertreten sein, man kann sie nicht dauernd verdrängen. Verdrängtes wird letztlich mächtiger als das, was gewählt wird.
Heute scheint Verdrängen aber völlig normal. Wir leben alle in unserer Filterblase, der Algorithmus auf Facebook wählt für uns die News und Produkte aus, die zu uns passen. Und alles, was nicht unserer Blase entspricht, blendet er aus.
Meine Beobachtung ist, dass es diese Blase zwar gibt, wir aber genau merken, in welcher Blase wir stecken. Deshalb gucken wir nach rechts und links und schauen, was Leute tun, die in anderen Blasen stecken. Menschen haben immer schon dazu geneigt, ihre Wirklichkeit als eine darzustellen, die ihren Wünschen entspricht. Aber wir sind nicht bereit, uns voll und ganz davon absorbieren zu lassen.
Ich möchte Ihnen gerne glauben, aber gerade hat die «Sonntagszeitung» einen Artikel publiziert. Darin geht es um Vergewaltigungen durch Ausländer. Ich hole kurz aus: Die Journalistin steigt ein mit einer Szene, in der ein Taxifahrer eine Frau in den Wald fährt und dort vergewaltigt. Man denkt: «Hilfe, das könnte auch mir passieren.» Doch später erfährt man, dass die meisten Vergewaltigungen in Asylheimen stattfanden – das könnte mir als Schweizerin also nicht passieren. Dann steigt die Journalistin mit folgendem Zitat aus: «Wir importieren das Problem», als ob es keine Schweizer Täter gebe. Ausserdem erwähnt sie nicht, dass viele Täter Familienmitglieder oder Freundinnen vergewaltigen und nicht angezeigt werden. Ich würde jetzt sagen: Dieser Artikel unterschlägt einen grossen Teil der Wirklichkeit. Aber aus Ihrer Sicht wäre das okay, da die Wirklichkeit immer selektiv ist?
Die Frage lautet eigentlich: Warum betont die Journalistin das eine und das andere nicht? Eine Zeitung muss den Leser ködern und Informationen zuspitzen. Doch die Qualität des Artikels hängt davon ab, ob die Journalistin im Lauf des Textes die zugespitzten Informationen durch andere Informationen ausgleicht und ein einigermassen brauchbares Bild der Statistik von Vergewaltigungen in der Schweiz präsentiert. Ein Boulevardblatt bleibt auf der expliziten Ebene von Dramatisierung von Ausländergewalt, eine Qualitätszeitung bringt Sätze, die zeigen: «Vorsicht, Vorsicht, auch der Schweizer ist kein Unschuldslamm.»
«Wenn alle Ausländer kriminell wären, müsste ich es als Deutscher auch sein.»
Ein Strafrechtsexperte kommt im Artikel zu einem eindeutigen Fazit: «Das Problem der Ausländerkriminalität ist echt.»
Ja, das kann man ja auch nicht abstreiten, oder?
Kann man nicht?
Es gibt die Ausländerkriminalität, weil es unter den Menschen, die in unsere Länder kommen, solche gibt, die kriminell werden. Es gibt sie also nicht, weil alle Ausländer kriminell sind. Dann müsste ich es als Deutscher ja auch sein. Aber ich finde in der Schweiz Verhältnisse vor, die es mir ermöglichen, ein Leben zu führen, ohne der Versuchung zu erliegen, kriminell zu werden. Das gilt für Ausländer, die aus anderen Ländern kommen vielleicht eher nicht. Sehen Sie, was ich meine?
Nicht ganz.
Ich habe Familie, mancher Flüchtling hat keine. Meine Familie hat Arbeit und Einkommen. Beides haben manche Flüchtlinge nicht. Ich kann die Zeichen der Schweizer Kultur deuten, manche Flüchtlinge vielleicht nicht. Ich weiss, dass eine Frau, die mir alleine auf der Strasse begegnet, deshalb nicht für mich verfügbar ist. Manche Flüchtlinge wissen das vielleicht nicht.
Flüchtlinge haben es schwerer, eine Freundin zu finden und sich ein Leben aufzubauen.
Können wir uns vorstellen, was es heisst, zum ersten Mal unverschleierten Frauen auf der Strasse zu begegnen, wenn man in Verhältnissen aufwächst, in denen Verschleierung üblich ist? Nehmen Sie dazu noch das Konkurrenzverhalten unter jungen Männern, die alles verloren haben und nichts als eine ungewisse Zukunft vor sich haben: Ich kann mir schon vorstellen, dass das eine explosive Situation ist. Wir Nicht-Flüchtlinge merken ja gar nicht mehr, auf welche Fülle von Reizen und Herausforderungen im öffentlichen Leben wir gelernt haben, gleichgültig zu reagieren.
Sie skizzieren jetzt eine ziemlich eindeutige Wirklichkeit. Woher wissen Sie, was die Wirklichkeit dieser jungen Männer ist?
Na ja, ich bin erstens Soziologe und zweitens Kulturtheoretiker. Und ich habe drittens sehr viel geforscht zum Unterschied zwischen Moderne und Schriftgesellschaften in Bezug auf Familienstrukturen, Sexualverhalten, Kleidersitten und patriarchale Kontrollstrukturen. Deshalb kann ich mir ein vorsichtiges Urteil über diese Zustände durchaus zutrauen. Aber all das wissen Sie auch.
«Wir Nicht-Flüchtlinge merken gar nicht, auf welche Fülle von Reizen im öffentlichen Leben wir gelernt haben, gleichgültig zu reagieren.»
Ich bin mir nicht sicher, ich habe noch nie mit einem Einwanderer über Sexualität gesprochen.
Die Frage ist nur, ob man als Journalistin einen mehr oder minder chauvinistischen oder rassistischen Text über mehr oder minder unterdrückte und unterdrückende muslimische Patriarchen schreibt. Oder ob man das Material aus diesen gruseligen Boulevardtexten auf eine durchaus stimmige Kulturgeschichte zurückführt, und sagt: Da ist etwas Wahres dran, auch wenn es hier auf eine gefährliche Art und Weise aufgebauscht und gegen Ausländer verwendet wird.
Also muss man – plakativ gesagt – aus dieser Perspektive heraus nachher nicht alle Ausländer zwangsläufig rauswerfen?
Wenn Ausländer nicht wissen, welches Verhalten wir erwarten, und wenn wir nicht wissen, mit welchen Problemen es Ausländer bei uns zu tun haben, entstehen wechselseitige Vorurteile, die zum Beispiel dazu führen, dass «wir» uns von «ihnen» unterscheiden. Als ob «ihr» und «wir» so eindeutige Blöcke wären. Wir müssen Wege finden, unseren Gästen unsere Kultur näherzubringen und uns in ihre Probleme hineinzudenken. Zuweilen denke ich, dass es unsere Angst vor der Heimatlosigkeit ist, die uns so ablehnend auf jene reagieren lässt, die heimatlos sind. Wir leben in einer gelassenen Kultur des Komforts und haben es mit Leuten zu tun, die grösste Stresserlebnisse hinter sich haben und noch mitten in ihnen stecken. Kein Wunder, dass es Zeit braucht, um miteinander auszukommen.
«Wenn wir nicht ironisch sein dürfen, können wir nur noch auswandern.»
Schaffen wir das?
Ja, natürlich. Nach der «berühmten» Kölner Silvesternacht gab es Interviews mit Leuten in den Asylheimen, aus denen auch die jungen Männer stammten, die ausfällig geworden waren. Die interviewten Leute waren schon viele Wochen länger bei uns. Sie sagten, die Ausfälligen hätten noch nicht gelernt, die Zeichen unserer Kultur zu lesen. Manche haben zum ersten Mal in ihrem Leben einen Polizisten gesehen, der nicht sofort hart durchgreift. Da kann man schon auf dumme Gedanken kommen.
Von Ausländern verlangen wir, dass sie sich in andere Wirklichkeiten integrieren, und als Soziologe ist es Ihr Job, zu beobachten, wie andere leben. Aber für viele Menschen ist das eine Zumutung.
Ja, das stimmt, es gibt Leute, die das noch nie in ihrem Leben tun mussten. Die merken erst dann, wenn ein Arbeitskollege ein seltsames Hobby hat oder die eigenen Kinder auf eigenartige Ideen kommen, dass nicht alle ihre Wirklichkeit teilen. Die Frage ist, wie man darauf reagiert. Die einen reagieren mit Ablehnung, weil sie um ihre Wirklichkeit fürchten. Die anderen reagieren mit Neugier, weil sie fest genug in ihrer eigenen Wirklichkeit verankert sind und sicheren Boden unter ihren Füssen haben.
Gibt es den sicheren Boden? Als Journalistin ist es meine Aufgabe, die Wirklichkeit abzubilden. Doch ich bin mir nie sicher, ob ich die Wirklichkeit so erfasst habe, wie sie ist. Deshalb liebe ich die Ironie, damit kann ich zeigen: «Hey, so denke ich, das habe ich recherchiert, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig erfasst habe.» Das Problem dabei: Viele Leute fühlen sich nicht ernst genommen, wenn man ihnen ironisch kommt.
Ein völliger Unsinn. Wenn wir nicht ironisch sein dürfen, können wir nur noch auswandern, uns auf eine Insel setzen und dem Plätschern des Meeres lauschen.
Warum?
Ich will mit den – aus meiner Perspektive – merkwürdigsten Menschen auf diesem Globus auf irgendeine Art und Weise im Gespräch bleiben. Wenn ich ihnen nicht zustimme, muss ich einen anderen Weg finden, trotzdem etwas sagen zu können. Das kann ein Sarkasmus, ein Zynismus oder eine Ironie sein, die höflichste und klügste Form. Ironie heisst: Ich stimme dir zu, bin aber anderer Meinung. Die Ironie ist eine Einladung, trotzdem miteinander ins Gespräch zu kommen und vielleicht sogar etwas zu finden, das man gemeinsam hat. Die Ironie ist eine Einladung des Ernstes.
Aber sieht der «Stammtischler» Ihre Ironie als Einladung?
Am Stammtisch hat die Ironie nichts verloren. Hier herrscht die Kultur des drastischen Witzes.
«Die Wirklichkeit ist wie eine Kuh. Schaut man ihr in die Augen, läuft sie weg.»
Das heisst, man müsste bereits wissen, mit welcher Art von Humor man das «merkwürdige» Gegenüber ansprechen müsste, damit er einen versteht. Die Gefahr ist also gross, dass jeder in seiner Wirklichkeit bleibt, die gar keine ist.
Die Soziologin Karin Knorr-Cetina sagte einmal: «Die Wirklichkeit ist wie eine Kuh. Schaut man ihr direkt in die Augen, läuft sie weg.» Vielleicht läuft sie gar nicht weg, aber worauf es ankommt: Wirklichkeit gibt es nur im Plural der Perspektiven, aus der man sie anschaut. An Kippfiguren kann man das besonders gut studieren.
Was sind Kippfiguren?
Bilder, die auf den ersten Blick etwas anderes darstellen als auf den zweiten. Es gibt beispielsweise ein Bild, auf dem man sowohl eine junge Frau als auch eine Greisin erkennen kann, je nachdem, wie man es anschaut. Es zeigt: Wenn man es mit der Wirklichkeit zu tun hat, muss man immer bereit sein, einen Irrtum einzusehen, etwas Übersehenes zu berücksichtigen oder einen Akzent anders zu setzen. Es gibt Erzählungen, die deswegen faszinieren, weil sie ihr wirkliches Thema aussparen. Es gibt Witze, die traurig stimmen, weil man merkt, welche Wirklichkeit angedeutet wird.
Aber wer liest schon Erzählungen, melancholische Witze oder Ironie? Die meist gelesenen Texte sind Gratis-Blätter, die so tun, als gäbe es eine einzige Wirklichkeit, die man finden könne. Und dabei alle anderen Wirklichkeiten und die Menschen, die in ihnen leben, ignorieren. Genau so, wie die amerikanische Politik gemäss Ihrer These jahrzehntelang die weisse Unterschicht ignoriert hat.
Wir haben die Wahl, was wir lesen, und wir haben die Politiker in den Ämtern, die wir wählen.