Charles Heller ist Forscher und Aktivist zugleich. Mit Schiffsverkehrsdaten, Notrufsignalen, Satellitenbildern und Augenzeugenberichten rekonstruiert er minutiös Unglücke von Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer – und fordert damit die EU-Politik heraus.
Charles Heller ist ein erklärter Feind der geschlossenen Grenzen. Vielleicht auch deshalb, weil er als gebürtiger Schweizer zu jener privilegierten Minderheit gehört, die sich fast überall auf der Welt niederlassen kann. Der 35-jährige Architekt und Politologe ist viel unterwegs; meist in den Mittelmeer-Anrainern, dem Raum seiner Forschung.
Aktuell wohnt er in Kairo, und arbeitet an der American University. Davor lebte er mit seiner Frau und seinem Sohn mehrere Jahre in Tunis. Gelegentlich macht der Kosmopolit einen Halt in seiner alten Heimat, wie am Dienstag, 17. Mai, für einen Vortrag in Basel. Ich erreiche ihn einige Tage davor in Genf, wo Heller aufgewachsen ist und Kunst studierte, bevor er das Studium an der Goldsmith University in London in Politologie weiterführte, um anschliessend in forschungsgeleiteter Architektur zu doktorieren. Heller ist kurz angebunden. Er müsse gleich wieder los und am Folgetag sei er den ganzen Tag unterwegs.
Forensik der Mittelmeer-Tragödie
Die Hektik hat unter anderem mit Hellers neustem Bericht zu tun, der vor wenigen Wochen online ging. «Death by Rescue» ist eine minutiöse Aufarbeitung der Ereignisse vom 12. und 18. April 2015, als in einer Woche 1200 Flüchtlinge beim Versuch ertranken, das Mittelmeer von der nordafrikanischen Küste aus Richtung Europa zu überqueren (siehe Kasten).
Medecins sans frontières sprach damals von Zuständen wie in einem Kriegsgebiet. Die beiden untersuchten Unglücke sind nicht alleine wegen der hohen Anzahl an Toten besonders tragisch, sondern auch wegen der Art, wie sich die Todesfälle ereignet hatten: In beiden Fällen starben die Flüchtlinge nicht, weil kein Schiff zur Rettung in der Nähe war. Vielmehr kenterten die Schiffe während der Rettungsversuche.
Um die Geschehnisse an jenen beiden leidvollen Tagen zu rekonstruieren, hat Heller ein Jahr lang Schiffsverkehrsdaten, Notrufsignale, Satellitenbilder, Daten zu Meeresströmungen und Wind, Augenzeugenberichte und Statistiken gesammelt und ausgewertet. Er betrieb damit eine Art forensische Aufarbeitung der Todesfälle auf dem Mittelmeer. Entsprechend nennt er seine Forschung auch «Forensic Oceanography».
«Staaten überwachen die Meere mithilfe von Satelliten», erklärt Heller. «Der Zivilgesellschaft fehlen solche Instrumente, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit beweisen zu können.» Deshalb hat Heller während seiner Doktorarbeit eine eigene Methodik entwickelt, um mit öffentlich zugänglichen Daten Ereignisse auf dem Mittelmeer rekonstruieren zu können. «Oft nutze ich dazu Technologien, die eigentlich zur Abwehr von illegaler Migration und zum Schutz der Grenzen eingesetzt werden.» Es ist die bewährte Judo-Strategie von zivilgesellschaftlichen Aktivisten: Die Kraft des Kontrahenten gegen diesen selbst umzuleiten.
Grundlagenforschung für NGOs
Diese Vorgehensweise ist typisch für die Forschung bei «Forensic Architecture» (FA), einer Forschungsstelle der Goldsmith University, bei der Heller bis heute assoziiert ist. Um die 30 Architekten, Filmemacher, Designer, Informatiker, Juristen und Politologen betreiben dort Grundlagenforschung für Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft. Sie recherchieren überall dort, wo Menschenrechtsverletzungen wahrscheinlich oder offensichtlich sind, jedoch Daten fehlen, um diese zu belegen. Zum Beispiel beim Genozid durch Militärs und Paramilitärs am Volk der Ixil Maya in Westguatemala in den 80er-Jahren, bei amerikanischen Drohnenangriffen in Waziristan (Pakistan) oder bei israelischen Luftangriffen in Gaza.
Eyal Weizman, der aus Israel stammende Direktor von FA, erklärte gegenüber dem englischen Magazin «Wired»: Forensische Architektur sei die Kunst aus dem unmittelbaren Raum, in dem Konflikte und Kämpfe stattfinden, Fakten an den Tag zu befördern. Das können Schusslöcher in Hauswänden sein, Bombenkrater, gefällte Bäume oder die Anordnung von Zäunen. Sie sind die Materialisierung von politischen Kräften in Raum und Zeit, wobei das Interesse von Weizmans Team besonders den architektonisch-räumlichen Aspekten gilt.
Ein überfülltes Flüchtlingsboot in der Ägäis. (Bild: Reuters/Yannis Behrakis)
Oft arbeiten die Forscher mit räumlichen Metadaten von Videobildern. Zum Beispiel wenn sie Bilder von Rauchschwaden nach Bombardierungen automatisch auswerten, um die eingesetzten Waffentypen zu bestimmen. Oder sie rekonstruieren mit Überlebenden den Hergang von Drohnenangriffen anhand von virtuellen 3D-Modellen.
Weizman und sein Team arbeiten eng mit NGOs und Menschenrechtsorganisationen, wie Amnesty International und Human Rights Watch zusammen. Dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus dabei verschwimmen, ist gewollt. Die Arbeit von FA ist per se politisch. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Weizmann gelegentlich Todesdrohungen erhält. Als er in Israel einen Bericht präsentierte über den unverhältnismässigen Angriff der israelischen Armee auf Gaza im August 2014 mit mindestens 135 getöteten Zivilisten, drohte ein anonymer Anrufer mit einem Kopfschuss.
Dokumentation verweigerter Hilfe
Charles Hellers Projekt «Watch the Med» steht exemplarisch für den aktivistischen und politischen Charakter der Forschung von Forensic Architecture. Die Idee dazu entstand, nachdem Heller mehrere tödliche Ereignisse auf den Mittelmeer aufgearbeitet hatte.
Darunter den Fall eines Bootes, das 2011 trotz Sichtung durch Helikopter und Kriegsschiffe 14 Tage auf dem offenen Meer trieb. Nur 9 der 72 Insassen überlebten. Zusammen mit seinem Forschungskollegen Lorenzo Pezzani, Aktivisten und NGOs entwickelte Heller anschliessend eine Onlineplattform, auf der Beobachtungen zu Flüchtlingsbooten gesammelt und auf Karten visualisiert wurden. Verstösse gegen die Rechte von Flüchtlingen sind damit dokumentiert und können aufgearbeitet werden.
Für Flüchtlinge in Seenot haben die Initianten zudem eine 24-Stunden-Notfallnummer eingerichtet. Diese wird von einem Aktivisten-Netzwerk rund ums Mittelmeer betreut. Geht über Satellitentelefon ein Notruf ein, sammeln die Aktivisten Informationen zur genauen Position des Bootes und zum Gesundheitszustand der Insassen und leiten diese an die verantwortliche Küstenwache weiter.
Das ist genauso konkrete Hilfe wie politisches Druckmittel: «Küstenwache und Frontex müssen wissen, dass die Zivilgesellschaft genau beobachtet, ob und wie auf Notfälle reagiert wird», sagt Heller. Dass die EU trotz all der heute verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz nicht aus ihren Fehlern lernt, macht den Ozeanforensiker wütend. «Die Abschottungspolitik ist grausam gescheitert. Trotzdem akzeptiert die EU Migration nicht als unumgänglichen Fakt; trotzdem mussten in den vergangenen 20 Jahren über 20’000 Menschen im Mittelmeer ertrinken.»
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Öffentliche Vortragsreihe der Uni Basel zu Flucht und Migration: Das Departement für Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel hat als Reaktion auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte eine Vortragsreihe zum Thema organisiert. Charles Heller spricht über transnationale Solidarität für Flüchtlinge. Dienstag, 17.05.2016 , 18.15 Uhr, Kollegienhaus der Universität Basel.
Am 12. und 18. April 2015 ertranken 1200 Flüchtlinge beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Charles Heller hat die damaligen Ereignisse aufgearbeitet und im Online-Report «Death by Rescue» publiziert. Sein Fazit ist eindeutig: Der Tod der 1200 Flüchtlinge im April 2015 ist eine direkte Folge der EU-Mittelmeerpolitik.
Er führt die Katastrophe auf den Stopp von «Mare Nostrum» zurück, einer Operation der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Flüchtlingen, die vom Herbst 2013 bis 2014 lief. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hat die Operation rund 170’000 Menschen gerettet.
Am 1. November 2014 wurde Mare Nostrum von der «Operation Triton» unter Führung der EU-Grenzagentur Frontex abgelöst. Nicht mehr die Seenotrettung war nun die prioritäre Aufgabe, sondern die Sicherung der EU-Aussengrenze vor illegaler Einwanderung. Anders als bei Mare Nostrum war das Einsatzgebiet auf den küstennahen Bereich beschränkt. Das monatliche Budget betrug lediglich noch einen Drittel der Vorgängeroperation.
Um das entstandene Vakuum bezüglich professioneller Rettungsaktionen auf hoher See zu füllen, wurde fortan verstärkt auf Frachtschiffe zurückgegriffen, die sich in der Nähe von in Not geratenen Flüchtlingsbooten befanden. «Jeder Experte weiss, dass die Rettung solcher Flüchtlingsboote die schwierigsten Rettungsaktionen überhaupt sind», erklärt Heller. Die überfüllten Boote seien oft extrem unstabil und die Insassen könnten hysterisch reagieren, was zu Unfällen während der Rettung führe. «Frachtschiffe sind nicht für solche Rettungsaktionen ausgerüstet und die Besatzungen nicht dafür ausgebildet», sagt Heller.
Das war in den beiden untersuchten Fällen von 2015 fatal: Am 12. April kenterte ein überfülltes Flüchtlingsboot. Ein Frachtschiff, das sich in Sichtweite befand, konnte lediglich einen geringen Teil der Ertrinkenden retten. Am 18. April wurde ein Flüchtlingsboot, beim Versuch dieses zu retten, von einem Frachtschiff gerammt.
«Es ist paradox», sagt Heller. «Vor 2013 starben die Flüchtlinge, weil die EU eine Politik der verweigerten Nothilfe praktizierte. Heute sterben sie wegen der EU-Rettungspolitik.» Für Heller steht fest: Nicht alleine die ruchlosen Schmuggler, welche ihre Boote masslos überfüllen, sind für die Toten im Mittelmeer verantwortlich. Genauso trage die EU-Politik ihren Teil dazu bei. Die Politiker hätten die Operation Mare Nostrum – und die darunter ausgeführten professionellen Rettungsaktionen auf hoher See – in vollem Bewusstsein darüber gestoppt, was dies für die Flüchtlinge in Seenot bedeuten würde: Tod durch Ertrinken.