Dominik Wunderlin öffnet im weissen Laborkittel. Man könnte ihn auf den ersten Blick für einen Zahnarzt halten, wie er aus der Tür eines unscheinbaren Gebäudes auf die wuselige Strasse tritt.
Dabei befindet sich an dieser unspektakulären Adresse in der Nähe des Tellplatzes ein Depot des Museums der Kulturen, dessen europäische Abteilung Vizedirektor Wunderlin seit 30 Jahren leitet. Auf vier Stockwerke und unzählige Fahrregale verteilt lagern hier Schätze aus vergangenen Zeiten, von Keramiken über Uhren, Kaffeemühlen und Textilien bis hin zu – Gebäck!
«Wir sind die einzigen, die noch Sunnereedli aus der ersten Produktion von 1925 haben, samt Güggli», erklärt Wunderlin stolz. So gut die Mini-Fastenwähen auch erhalten sein mögen: Probieren möchte man sie nicht, wurden früher doch sämtliche Neuzugänge in die Sammlung mit Arsen behandelt.
An die 75’000 Objekte lagern in den Depots, und selbst Dominik Wunderlin hat mit seiner regen Ausstellungstätigkeit nicht Hand an alle Stücke der Sammlung gelegt. Zumal er ohnehin Handschuhe trägt, wie es der Respekt vor dem Alter und dem Kunsthandwerk der Objekte verlangt.
Zu seiner anstehenden Pensionierung haben wir Dominik Wunderlin gebeten, uns einige seiner Lieblingsstücke zu präsentieren. Die Anfrage kam kurzfristig, deshalb habe er sich nicht intensiv vorbereiten können, entschuldigt sich der scheidende Vizedirektor, aber: «Ich habe mir nichts ausgesucht, von dem ich definitiv nichts weiss.»
Würde man lange genug suchen, man fände im Depot auch den Scheffel, unter den Wunderlin sein Licht soeben gestellt hat.
Denn sobald der Ethnologe und Volkskundler zu erzählen beginnt, rollen die Geschichten und Anekdoten nur so von seiner Baselbieter Zunge, dass es eine Freude ist. Den ersten Halt legt Wunderlin vor einem Regal ein, auf dem Vogel Gryff, Leu und Wilde Maa tanzen.
«Diese Brauchtumsfiguren stammen vom Basler Künstler Max ‹Sulzbi› Sulzbachner (1904–1985). In Auftrag gegeben wurden sie von dem Architekturbüro, das den Bau der Kantine im Werk Rosental der damaligen Ciba-Geigy verantwortete, als ‹Danggerscheen› an den Bauherrn. Das war damals so üblich.
Sulzbachner hat für seine Figuren vorwiegend Restmaterialien verwendet. Meine Eltern haben den Künstler persönlich gekannt, und weil Sulzbi sein Umfeld um Stoffresten für seine Figuren bat, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch Teile unserer Hemden oder Ähnliches in den Flickenkleidern stecken.
Als Novartis kam, verschwanden die Figuren in einem Lager, bis Daniel Vasella alle firmeneigenen Kunstwerke von Experten schätzen liess. Eines Tages kam ein Telefon, da seien so Figuren, man wisse nicht recht, was damit anstellen. Ich setzte mich also aufs Velo und fuhr hin. Ich sagte, dass es schade um die Gruppe wäre, wenn die Figuren einzeln verscherbelt würden.
Darauf verschwand die Gruppe noch einmal für ein Jahr in einem Lager, bis wir sie als Schenkung entgegennehmen durften.»
Zu dieser Figurengruppe sei die persönliche Verbindung besonders gross, allerdings handle es sich dabei auch um eine Ausnahme: «Ich habe meine privaten Interessen bei der Anschaffung von Objekten nie in den Vordergrund gestellt», sagt Wunderlin. Obwohl er als aktiver Fasnächtler gerne zugebe, dass in den letzten Jahren viel zur Fasnacht dazu gekommen sei.
Und bei dem Stichwort geht es weiter mit einer Larve.
«Das ist ein ‹Federehannes›, wie diese Figur aus der baden-württembergischen Fasnet heisst, eine sehr schöne Larve. Das Rollkinn erinnert an den Barock, möglicherweise stammt sie noch aus dem 18. Jahrhundert.
Rottweil, wo diese Larve entstanden ist, hat eine wirklich alte Fasnacht: Da kommen die ‹Häs›, wie die Figuren auch genannt werden, in ihren handbemalten Kleidern vom schwarzen Tor her zum Narrensprung, das ist sehr eindrücklich – mir stellen sich schon beim Gedanken daran die Haare auf!
Im allemannischen Raum gibt es Tausende dieser Figuren, aber es war nie meine Absicht, diese Vielfalt vollständig abzubilden. Zumal diese Masken nicht gerade billig sind. Auch zur Fasnet habe ich eine persönliche Verbindung, ich sitze als einziger Schweizer im Kuratorium einer Stiftung, die Forschung zu diesem Brauchtum unterstützt.»
Man erkenne die Eigenheiten, aber auch das Fremde in der eigenen Kultur erst, wenn man auch anderes gesehen habe, erklärt Wunderlin: «Genau das ermöglicht diese Sammlung.» Vor Jahren habe er mit seiner Familie die Vorbereitungen zum Karneval auf Tobago mitverfolgt und dabei auch ein Juntenrössli entdeckt: «Das ist doch spannend!»
«Dieser Specksteintopf stammt aus einer meiner ersten Ausstellungen überhaupt. Das heisst, das Konzept zur Ausstellung hatten wir aus dem Tessin übernommen und mit eigenen Stücken ergänzt: Das Museum der Kulturen ist im Besitz einer Drehbank aus der Valle di Peccia, wo dieser weiche Stein bis in den Sommer 1900 bearbeitet wurde.
Ich habe jahrelang im Haus meiner Familie im Tessin Ferien gemacht und noch selber gesehen, wie solche Gerätschaften im Einsatz waren. Der Speckstein wird in 100-Kilogramm-Mocken vor Ort abgebaut und bearbeitet. Schon der römische Naturforscher Plinius, der in Como in Oberitalien geboren wurde, hat diese alte Tradition beschrieben. Als wir die Ausstellung machten, hat man das in Basel noch nicht gekannt.»
Das nächste Objekt sieht aus wie ein Zepter oder der König aus einem Kubb-Kegelspiel.
«Das ist eine Tessel aus Uri, ein sogenanntes Kerbholz. Ich habe sie vor drei Jahren im Rahmen einer Ausstellung präsentiert, die wir anlässlich des 111-Jahr-Jubiläums der Abteilung Europa veranstalteten. Diese Tessel sind ganz typisch für unsere europäische Kultur, sie halten Recht fest zwischen zwei oder mehr Parteien. Man sagt ja nicht umsonst, jemand habe etwas auf dem Kerbholz.
In diesem Fall gibt die Tessel Auskunft über Milchlieferungen, man nennt sie auch Milchmessbeil. Diese Form der Notierung ist um 1900 weitgehend verschwunden, allerdings haben Bäcker in Frankreich noch bis ins 20. Jahrhundert so abgerechnet. Und Kinder mussten früher ihre Vaterunser und Ave-Marias auf einem ‹Klausenbein› festhalten, an dem der Nikolaus dann ablesen konnte, ob es Nuss und Birnen gab – oder eben die Rute.
Dank Leopold Rütimeyer (1856–1932), dem Begründer der völkerkundlichen Sammlung, hat Basel eine der umfangreichsten Kollektionen an Tesseln überhaupt.»
Das letzte Objekt ist das einzige, das hinter Glas bleibt.
«Das ist ein Prager Jesulein. Wir haben eine umfangreiche Sammlung von Heiligenfiguren in Glasstürzen, manche davon sind sogar in Flaschen. Vor ungefähr 20 Jahren hat der letzte Betrieb in Salzburg seine Produktion stillgelegt, der alle katholischen Regionen damit belieferte.
Diese Figuren sind im ganzen ehemaligen habsburgischen Raum verbreitet, ich habe sie auch schon in Portugal gesehen. Per Schiff gelangten sie bis nach Südamerika, das dürfte eine ziemliche Herausforderung gewesen sein, bei der Hitze.
Als ich eine grössere Ausstellung zum Pilgern gemacht habe, wurden auch einige dieser Figuren gezeigt.»
Dominik Wunderlin, der lange im Schweizerischen Juraverein mitwirkte, erzählt davon, wie er schon als Jugendlicher eine Broschüre für die BVB verfassen sollte, um die Leute zum Wandern im Tarifverbund zu ermuntern: «Mit den Grünen und Gelben ins Blaue» nannte er seine Schrift. Und diesem Motto ist Wunderlin auch als Aussteller treu geblieben, indem er Besucher aus der Reserve lockte, sie zum Staunen und Entdecken anregte.
Ein Mitarbeiter unterbricht das Gespräch, man feiere einen Geburtstag und ob sich Wunderlin dazugesellen möge. So verabschieden wir uns von dem Ethnologen, der das Museum zwar ohne seine Lieblingsstücke, dafür aber reich an Erfahrungen und Erinnerungen verlassen wird.
Auf ihn warten ein Stück Kuchen, eine Tasse Kaffee – und der wohlverdiente Ruhestand.