Die Fraktionen von Freisinn und SVP lehnen die neue Energiestrategie ab und verfügen im Nationalrat jetzt über die Mehrheit. Ist das der Tod der Energiewende? Nein, schreibt unser Experte in seiner Analyse.
Der Wahlsieg der SVP und FDP hat die Frage nach den Chancen der Energiewende aufgeworfen. «Die Energiewende wird wohl nicht eintreten», prophezeite am Montag das «Newsnet» von «Tages-Anzeiger» und Co. Als «bedroht» oder «gefährdet» werteten andere Kommentare die neue Energiestrategie des Bundesrates, nachdem das Schweizer Volk den Rechtsparteien eine Mehrheit im Nationalrat mit 101 Sitzen beschert hat.
Wenn die beiden Fraktionen geschlossen gegen die Energiestrategie des Bundesrates stimmen, können sie die Vorlage in der Schlussabstimmung versenken. Auf den ersten Blick leuchtet die allgemeine Einschätzung deshalb ein. Es gibt allerdings zwei Hoffnungsschimmer für die Befürworter der Energiewende:
1. Die Rechte ist nicht geschlossen dagegen
In den bisherigen Abstimmungen zum Thema gab es im bürgerlichen Block bereits vorher Abweichler: Im Nationalrat stimmten im Dezember 2014 die Berner FDP-Frau Christa Markwalder und der Thurgauer SVP-Vertreter Markus Hausammann (TG) für die Energiestrategie, während sich der Berner SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal der Stimme enthielt.
Diese Abweichung von der Fraktionsdoktrin war deshalb bemerkenswert, weil Mitte-Links-Mehrheiten im Nationalrat die Energiestrategie des Bundesrates in mehreren Punkten verschärft hatten. Bleiben die wiedergewählten Markwalder, Hausammann und von Siebenthal bei ihrer Position, so gibt es trotz Rechtsrutsch im Nationalrat in der Schlussabstimmung keine Mehrheit gegen die Energiestrategie.
Der Ständerat, der die Energiestrategie im September 2015 als Zweitrat behandelte – und gegenüber dem Nationalrat etwas abschwächte –, befürwortete die Vorlage mit 27 gegen nur 4 Stimmen; dies bei je vier Enthaltungen von Linken und Freisinnigen. Was zeigt: Im Stöckli befürwortete die Mehrheit der beiden Rechtsparteien SVP und FDP die Energiestrategie. Diese deutliche Zustimmung dürfte im Ständerat auch nach den Wahlen Bestand haben.
2. Das Parlamentsgesetz verhindert eine weitere Verwässerung der Vorlage
Ob die Energiewende in der Schweiz gelingt, hängt nicht allein von der Zustimmung in der Schlussabstimmung ab, sondern auch von ihrem Inhalt. Gegenüber dem Nationalrat hat der Ständerat die Vorlage in einigen Punkten abgeschwächt. So verzichtete er unter anderem darauf, die Laufzeit der alten AKW in Beznau auf 60 Jahre zu begrenzen, und er beschloss eine zeitliche Limitierung der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) für Ökostrom.
Dennoch sprach nach dem Ständeratsentscheid niemand vom Ende der Energiewende. Denn wesentliche Punkte der bundesrätlichen Energiestrategie blieben – gegen den Willen von FDP und SVP-Mehrheit – in der Vorlage drin. Dazu gehören die Ziele, den Energieverbrauch generell stark zu senken, sowie die Beschlüsse, neue Atomkraftwerke zu verbieten und die Stromproduktion aus erneuerbarer Energie zu fördern. Dazu zählen auch Vorschriften zur Senkung des Energieverbrauchs von neuen Autos und Geräten, die Erhöhung der CO2-Abgabe oder die Förderung von energetischen Gebäudesanierungen sowie weitere Massnahmen.
Der Wirtschaftsverband Economiesuisse und rechte Politiker möchten die Vorlage des Ständerats jetzt weiter verwässern. Doch das ist kaum mehr möglich. Denn laut Parlamentsgesetz können jene Teile der Vorlage, denen beide Parlamentskammern bereits zustimmten, nur dann korrigiert werden, wenn die Energiekommissionen sowohl von National- als auch Ständerat einem entsprechenden Rückkommens-Antrag zustimmen. Eine Mehrheit für einen solchen Antrag ist nach dem klaren Abstimmungsresultat im Ständerat unwahrscheinlich.
Zu erwarten ist hingegen, dass der nach rechts gerückte Nationalrat auf die Fassung des Ständerats einschwenken wird. Dabei handelt es sich weitgehend um die ursprüngliche Energiestrategie, die der Bundesrat nach der Atomkatastrophe von Fukushima in seiner bisherigen Zusammensetzung beschlossen hat. Darum stellte sich Energieministerin Doris Leuthard ebenfalls hinter die mildere Fassung des Ständerats.
Letzter Strohhalm: Die Wende kommt sowieso
Selbst wenn am Schluss alle Mitglieder von FDP- und SVP-Fraktion im Nationalrat gegen die Energiestrategie stimmen und damit die ganze Vorlage in einen politischen Scherbenhaufen verwandeln, wird sich die Schweizer Energieversorgung wenden, allerdings weniger schnell. Denn die Alterung sorgt dafür, dass die Produktion von Atomstrom in der Schweiz auch ohne politische Schranken mittelfristig ausläuft. Der Bau von neuen Atomkraftwerken ist aus wirtschaftlichen Gründen ohnehin unrealistisch. Vorschriften in der EU und die internationale Klimapolitik sorgen ferner dafür, dass der Energieverbrauch und CO2-Ausstoss pro Kopf in der Schweiz sinken wird.
Offen bleibt, ob die Schweiz den wegfallenden Atomstrom primär mit Importen oder mit Effizienzsteigerung und erneuerbarer Produktion im Inland ausgleichen will. Der zweite Weg, den die Energiestrategie anstrebt, bringt der Schweiz mehr politische Unabhängigkeit und mehr wirtschaftliche Wertschöpfung. Auch aus diesen Gründen ist kaum zu erwarten, dass FDP und SVP die neue Energiestrategie politisch an die Wand fahren.
Was sind die Streitpunkte in der Energiestrategie? Die Übersicht
Nachstehend fassen wir die wichtigsten Beschlüsse und Streitpunkte zwischen den Räten zusammen. Über die Differenzen zwischen National- und Ständerat werden die beiden Parlamentskammern in den kommenden Sessionen nach den Wahlen entscheiden.
Thema |
Anträge Bundesrat |
Beschlüsse Nationalrat |
Beschlüsse Ständerat |
Ausstieg aus der Atomenergie | Bewilligung für neue AKW darf nicht erteilt werden, also Verbot. | Gleich wie Antrag Bundesrat. | Gleich wie Antrag Bundes- und Nationalrat, keine Differenz. |
Laufzeit bestehende Atomkraftwerke | Unbegrenzt, solange Aufsichtsbehörde ENSI sie als sicher beurteilt. | AKW Beznau II und I maximal 60 Jahre, AKW Gösgen und Leibstadt unbegrenzt, aber «Langzeit-Betriebskonzept» alle 10 Jahre. | Unbegrenzt, gemäss Bundesrat. |
Ziele für Verbrauch Jahr 2035 gegenüber dem Jahr 2000 | Pro Kopf 43 % Weniger Energie- und 13 % weniger Stromverbrauch. | Gleiche Ziele wie Bundesrat, aber in «Richtwerte» umgetauft. | Gleich wie Nationalrat. |
Ziele für erneuerbare Stromproduktion im Jahr 2035 | Wasserkraft: 37,4 Millliarden kWh, übrige Erneuerbare: 14,5 Mrd. kWh gibt pro Jahr rund 52 Mrd. kWh*. | Gleiche Ziele wie Bundeserat, aber in «Richtwerte» umgetauft. | Gleich wie Nationalrat, ausser übrige Erneuerbare: 11,4 Mrd. kWh. |
Ausbau erneuerbare Energie und Landschaftsschutz | Im nationalen Interesse, im Konflikt gleichrangig mit Landschaftsschutz. | Im nationalen Interesse, auch in geschützten Landschaften möglich. | Im nationalen Interesse, in geschützten Landschaften nur bedingt möglich. |
Abgabe zur Finanzierung der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) | Maximal 2,3 Rappen pro Kilowattstunde (kWh) Stromkonsum. | Maximal 2,3 Rappen pro kWh. | Maximal 2,3 Rappen/kWh, aber KEV wird zeitlich begrenzt. |
Verwendung der Gelder aus der KEV-Kasse |
Primär für Quer- Subventionierung von Strom aus Solar-, Wind- Biomasse- und kleinen Wasser-Kraftwerken. | Gleich wie Bundesrat, aber zusätzlich Investitionsbeitrag zum Bau von neuen, grossen Wasserkraftwerken. | Gleich wie Nationalrat, aber zusätzlich Nothilfe-Beitrag für bestehende grosse Wasserkraftwerke. |
Verpflichtung der Stromversorger, die Stromeffizienz zu steigern |
Ja, mit Zielvorgaben. Mittel: Ein Modell mit weissen Zertifikaten. | Ja, mit Zielen. Mittel: Ein finanzielles Bonus-Malus-Modell nach Vorbild von Kalifornien, Dänemark oder Genf. | Keinerlei Stromsparpflicht, weder für Stromverkäufer noch Netzbetreiber |
Mindestanforderungen für Energieeffizienz von Heizungen |
Keine Vorschriften, weil Sache der Kantone. | Bundesrat «kann» (und soll) solche Mindestanforderungen verordnen. | Gestrichen = Keine Vorschriften des Bundes. |
CO2-Abgabe auf fossilen Brennstoffen |
Wie heute: Minimal 36 Franken, maximal 120 Franken pro Tonne CO2 (= 10 bis 32 Rappen pro Liter Heizöl). | Neu minimal 84 Franken, maximal 120 Franken pro Tonne CO2 (= 22 bis 32 Rappen pro Liter Heizöl) | Gleich wie Nationalrat. (Zurzeit beträgt die Abgabe 60 Franken pro Tonne CO2.) |
CO2-Abgabe auf Strom aus fossiler Produktion |
Nicht beantragt. | Abgelehnt. | Abgelehnt. |
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*Zum Vergleich: Der gesamte Stromverbrauch in der Schweiz beträgt heute rund 60 Milliarden kWh pro Jahr.