Ein Filmkritiker durchleuchtet den Faschismus

Siegfried Kracauer war ein Journalist und Filmliebhaber mit scharfem Verstand. Mitte der 1930er-Jahre durchleuchtete er in einer umfangreichen Studie die Propaganda der Nazis und Faschisten.

«Nationalsozialistische Propaganda im Dienste des nihilistischen Machtwillens»: Aufmarsch der Hitlerjugend 1933.

(Bild: STR)

Siegfried Kracauer war ein Journalist und Filmliebhaber mit scharfem Verstand. Mitte der 1930er-Jahre durchleuchtete er in einer umfangreichen Studie die Propaganda der Nazis und Faschisten.

In der Filmbeilage der Basler «National-Zeitung» vom 16. April 1938 findet sich unter dem Titel «Pariser Filmbrief» ein Beitrag, der die Leserschaft über die Erfolgsfilme des Kinosommers in der Seine-Stadt ins Bild setzte. So war darin unter anderem die Rede von Marcel Carnés «Quai des Brumes», einer poetisch-realistischen Geschichte, die vor der Kulisse von Le Havre spielt, oder von Walt Disneys «Schneewittchen»-Film, der sich «schon Monate hindurch auf den Champs-Elysées» behauptete. Gezeichnet war der Text mit dem Kürzel «Kr.».

Verfasst hatte den Artikel der ehemalige Feuilleton-Redaktor der «Frankfurter Zeitung» Siegfried Kracauer (1889–1966). Kracauer hatte sich in den Jahren der Weimarer Republik einen Namen als kritischer und innovativer Journalist gemacht. Dabei setzte er sich neben dem eher traditionellen Feuilleton-Stoff mit so unterschiedlichen Gebieten wie der Welt der boomenden Filmindustrie und der schnell wachsenden Schicht der Angestellten auseinander.

Die «Machtergreifung»

1930 schickte ihn die «Frankfurter Zeitung» als Leiter ihres dortigen Büros nach Berlin. Bei seinen umfangreichen Aufgaben konnte er auf die Hilfe seiner Ehefrau Lili zählen, die ihn bei der Suche nach Material, der Herstellung von Exzerpten und als kritische Diskussionspartnerin unterstützte. Im Herbst 1932 hatte Kracauer offenbar genug von Berlin. Er bemühte sich nun wiederholt um eine Stelle im Pariser Büro der «Frankfurter Zeitung». Dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen zwar Stimmen einbüsste, aber immer noch stärkste Partei blieb, dürfte die Kracauers in ihren Plänen bestärkt haben. Ebenso, dass am 30. Januar 1933 Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler berufen wurde.

Am 28. Februar 1933 wurden Kracauers Paris-Pläne schlagartig Wirklichkeit. In der Nacht zuvor war das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen. Wer das Feuer gelegt hat, ist bis heute umstritten. Wem die Brandstiftung genutzt hat, dagegen nicht. Nach dem Brand erliess Reichspräsident Hindenburg eine Notverordnung, welche die Grundrechte ausser Kraft setzte und die «polizeiliche Schutzhaft für politische Gegner» erlaubte – das Signal für die Nazis, den Rechtsstaat zu zerstören und die demokratischen Institutionen zu zertrümmern.

In Paris befanden sich die Kracauers bald in prekären finanziellen Verhältnissen, da die «Frankfurter Zeitung» im August 1933 die Zusammenarbeit mit Kracauer beendete. Bereits im April schrieb er an einen Bekannten: «Den Juden und Linksmann wollen sie los sein. Dafür habe ich elf Jahre gearbeitet, mich exponiert.»

Spezifische Form der Lüge

Mit Besprechungen, einer Biografie von Jacques Offenbach, kleineren Arbeiten und der Unterstützung von Freunden hielten sich Siegfried und Lili Kracauer in den folgenden Jahren knapp über Wasser.
Zwischen 1936 und dem Winter 1937/38 verfasst Kracauer im Auftrag des Instituts für Sozialforschung eine umfangreiche Studie über «totalitäre Propaganda».

In Kracauers Text findet man Beobachtungen, die leider nicht nur von historischem Interesse sind: «Da die faschistische und nationalsozialistische Propaganda im Dienste des nihilistischen Machtwillens die totale Lenkung der Meinungen erstrebt, galt ihr Interesse nicht wie das der demokratischen Politik einer Scheidung zwischen Lüge und Wahrheit, sondern einer Mentalität, der Lüge und Wahrheit gleich unerheblich sind. Zur Herbeiführung dieses Ziels wird die Lüge in einer spezifischen Form verwandt. Man legt die Wahrheit nicht aus, verdreht sie vielmehr dadurch total, dass man den Gegner genau der Handlungen und Machinationen bezichtigt, die auf der eigenen Linie liegen.»

Exilland USA

Kracauers Text war zu lang, um in der Zeitschrift des Instituts publiziert zu werden. Der Veröffentlichung einer von Theodor W. Adorno extrem gekürzten Fassung mochte Kracauer seinerseits nicht zustimmen. So blieb die spannende Studie zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Immerhin war das Honorar ein Beitrag zur Linderung der prekären Finanzsituation der Kracauers. Vor diesem Hintergrund schätzte Kracauer auch den finanziellen Zustupf, den Artikel wie jene brachten, die er seit August 1938 bei der «National-Zeitung» unterbringen konnte.

Nachdem Hitlers Truppen Frankreich im Sommer 1940 überrannt hatten, wurde eine Emigration in die USA immer ratsamer. Diese gelang den beiden schliesslich 1941 mit Mühe und Not. In Amerika konnte sich Siegfried Kracauer dank eines Stipendiums auch wieder seiner alten Liebe, dem Film, widmen. Unter anderem entstand dabei sein wohl bekanntestes Buch: «From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film» (1947).
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Siegfried Kracauer: «Totalitäre Propaganda», Berlin 2013.
Jörg Später: «Siegfried Kracauer. Eine Biographie», Berlin 2016.

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