Ein Lesezirkel im Zeitalter des Internets

Sie liest für ihr Leben gern und twittert ausserdem fleissig: Die Baselbieterin Seraina Scherer. Im August hat sie diese zwei Leidenschaften zusammengeführt und auf der Kommunikationsplattform Twitter einen Lesezirkel initiiert.

«#lesezirkel ist, wenn im Buch 'um zu wittern' steht, ich aber 'um zu twittern' lese... ;)», schreibt Seraina Scherer, Initiantin des Twitter-Lesezirkels. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Sie liest für ihr Leben gern und twittert ausserdem fleissig: Die Baselbieterin Seraina Scherer. Im August hat sie diese zwei Leidenschaften zusammengeführt und auf der Kommunikationsplattform Twitter einen Lesezirkel initiiert.

«Hat jemand Lust auf ein Experiment? Mir schwebt ein ‘Twitter-Lesezirkel’ vor: Wir lesen gleichzeitig das gleiche Buch & twittern gemeinsam?» Diese Nachricht erreichte am 30. August 2011 spätabends alle Follower von Twitter-Mitglied @serscher. Hinter @serscher steht Seraina Scherer. Die 29-Jährige macht gerade ihren Master als Informations- und Dokumentationsspezialistin und arbeitet bei der FHNW Olten in der Bibliothek. Seit sie es kann, liest sie. Ständig und überall. «Wir hatten keinen Fernseher, als ich ein Kind war», erzählt sie. Stattdessen wurde vorgelesen. In der Freizeit sei sie in der Kantonsbibliothek in Liestal gehockt, quasi festgewachsen auf einem der samtüberzogenen Sitze, und habe die Bücher regelrecht verschlungen.

«Ich kann nicht verstehen, warum Leute nicht lesen», sagt sie. Und weil sie selber nicht nur gerne liest, sondern auch gerne über das Gelesene spricht, hatte sie die Idee mit dem Twitter-Lesezirkel. «Es ist doch so, dass man heutzutage kaum mehr Zeit findet, sich zusammenzusetzen und gemütlich über ein Buch zu reden, wie das in Lesezirkeln zu Grossmutters Zeiten der Fall war», sagt sie. «Aber viele Leute sind wie ich in den sozialen Netzwerken im Internet präsent. Also sah ich da eine Möglichkeit.»

Bei Twitter ist die Baselbieterin erst seit knapp einem Jahr dabei. Sie sei sehr Web-2.0-affin, meint sie, und ausserdem ein News-Junkie. Twitter sei da genau das richtige gewesen: Sie habe jenen Leuten und Diensten folgen können, die sie mit den neuesten Nachrichten versorgten. Inzwischen versorgt auch sie ihre Follower stetig mit News (und machte damit unter anderem TagesWoche-Redaktor Philipp Loser auf sich aufmerksam).

Sommerloch

Im Sommer 2011 aber waren drei Wochen Zwangspause angesagt – während ihrer Ferien verfasste Scherer keinen einzigen Tweet (=Twitter-Nachricht). Danach habe sie fast Entzugserscheinungen gehabt, erzählt sie lachend. Dann kam die Idee mit den Lesezirkel. Auf ihren Tweet, in dem sie die Leute dafür anfragte, meldeten sich zuerst drei oder vier Leute. Diese reichten den Tweet weiter, und in relativ kurzer Zeit gab es rund 20 Leute, die Interesse an einem Twitter-Lesezirkel zeigten.

Seither stellt Scherer einmal im Monat eine kurze Liste von Büchern zusammen, aus der die Mitleser dann via Abstimmung das Buch auswählen, das sie lesen wollen. Wichtige Grundsätze dabei: Es muss ein Buch aus der Populärliteratur, rund 300 Seiten stark und sowohl als Taschenbuch wie als E-Book verfügbar sein. Bei der Auswahl der Bücher erhält sie Hilfe von Franziska Freivogel, der Mitinhaberin von Scherers Lieblingscafé Nasobem. «Zum Glück», sagt sie, denn der Lesezirkel mache inzwischen mehr Arbeit, als sie gedacht hätte.

Da müssen nicht nur die Bücher organisiert werden, sondern es will auch überlegt sein, wieviele Kapitel man von Woche zu Woche liest. Denn immer am Ende einer Woche wird auf Twitter ein Fazit über das Gelesene gezogen. Es gilt auch die Regel, dass man vorher nichts vom Inhalt verrät – schliesslich lesen ja nicht alle gleich schnell. Zitate und ähnliches sind aber erlaubt, und jede Nachricht wird mit dem Hashtag (=Stichwort) #lesezirkel versehen, damit jeder gleich weiss, an wen sich die Tweets richten.

Blog-Pflege

Nach kurzer Zeit schon konnte Seraina Scherer interessierten Mitlesern nicht mehr auf kurzen 140 Zeichen (auf so viele Buchstaben ist ein einzelner Tweet beschränkt) erklären, was der Lesezirkel ist und will. Also eröffnete sie kurzerhand einen Blog, der diese Funktion übernahm. Auch dieser jedoch benötigt regelmässige Pflege. Trotzdem macht der Lesezirkel der Initiantin vor allem Freude, und sie denkt nicht daran, damit aufzuhören. «Erst wenn es sich totlaufen sollte, stelle ich ihn ein», erklärt sie.

Vorher aber freut sie sich noch monatlich über ihre Erfindung. Sie habe fast nur positive Rückmeldungen darauf erhalten, sagt sie. «Nur zwei Leute haben die Lesezirkel-Nachrichten auf Twitter blockiert, weil sie keine Lust darauf haben, dass ihnen damit die Timeline (=Strom der abonnierten Nachrichten, Anm. d. Red.) überschwemmt wird.»

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