Ein Märchenerzähler, der die Kinder träumen lassen will

Die Abenteuer des Rolf Schächteli werden 30 Jahre alt: Mit seinen «Basler Määrli» schuf Peter Baumgartner ein Zeitdokument der Achtzigerjahre, welches so manche Kindheitserinnerung der Kassetten-Generation mitprägte.

«Gewisse Dinge, die Rolf erlebt, hätten genauso gut auch mir passieren können»: Der Geschichtenerzähler Peter Baumgartner (86) erinnert sich, wie er 1985 seinen lokalen Märchenhelden kreierte.

(Bild: Michel Schultheiss)

Vor 30 Jahren erweckte er seinen Helden Rolf Schächteli zum Leben: Der Märchenerzähler Peter Baumgartner erzählt, wie er anno 1985 ein Dialekt-Zeitdokument kreierte, welches so manche Kindheitserinnerung der Kassetten-Generation mitprägte.

Alles beginnt beim Spalentor: Der etwas verträumte Rolf wird prompt von einem Auto angefahren. In einer Art Zuckerwatten-Delirium schwebt er den Spalenberg hinab, um schliesslich dem «Vater Rhy» zu begegnen. Dieser – eine Art lokaler Fluss-Neptun – überreicht ihm das «Perlmutterfischsackmesser». Das magische Utensil wird fortan zu seinem ständigen Begleiter für weitere fantastische Reisen.

Mit dieser Geschichte nehmen die Abenteuer des Rolf Schächteli ihren Lauf. Mittlerweile hat der kleine Held 30 Jahre auf dem Buckel: 1985 wurden die «Basler Määrli» beim Radio Basilisk von Peter Baumgartner lanciert und erschienen dann auch auf Kassette. Das geschliffene Baseldeutsch des Sprechers ist wohl so manchem Kind der Achtzigerjahre bekannt.

Auch heute noch wird schnell einmal klar, dass man mit Baumgartner einen passionierten Erzähler vor sich hat: In seinem Garten kommt der heute 86-Jährige ins Fabulieren, wenn er an die Zeit zurückdenkt. Lebhaft überschneiden sich Fragmente seiner Märchen mit der eigenen Lebensgeschichte. Dabei erklärt der ehemalige Primarlehrer auch, wie das erste Abenteuer von Rolf zustande kam. «Eine Erinnerung an einen Traum brachte mich auf diese Idee», sagt er. Auch für das Sackmesser gibt es ein Vorbild – ein altes englisches Seemannsmesser, das Baumgartner bei sich zuhause hatte.

Zwischen Fantasie und Heimatkunde

Dabei entstanden die «Basler Määrli» ebenso Knall auf Fall wie Rolf Schächtelis Gang in die Fantasiewelt geschah. Peter Baumgartner arbeitete damals als Springer bei Radio Basilisk. «Ich war so etwas wie der Grossvater, als es noch eine Art Pfadi-Radio war», erinnert er sich. Die Idee einer Kinderstunde löste bei ihm Begeisterung aus. Diese bestand zunächst aus Gesprächen mit dem Maskottchen, dem Drachen Theo. Als eines Tages aber mal ein Mädchen schrieb, es habe Angst vor der dunklen Stimme des Fabeltiers, dachte man um. Die Idee war, jemanden zu finden, der etwas auf Baseldeutsch erzählt. Roger Thiriet, der damals bei Radio Basilisk mit Baumgartner zusammenarbeitete, fragte ihn, ob er diese Aufgabe als Märchenonkel übernehmen könne – wobei es weniger eine Frage war als bereits beschlossene Sache.

Laut Baumgartner war es der Freitag vor Pfingsten 1985, an dem er eingeweiht wurde. «Bereits für den Pfingstmontag waren die Mundart-Erzählungen angekündigt – und es stand bereits in der Zeitung», erinnert er sich. Etwas überrumpelt sei er schon gewesen; schliesslich habe er innerhalb von wenigen Tagen ein ganzes Märchenuniversum ausspähen müssen.



Damals auf Kassette, seit zwei Jahren auch auf CD: Noch immer verkaufen sich die Geschichten von Rolf Schächteli.

Damals auf Kassette, seit zwei Jahren auch auf CD: Noch immer verkaufen sich die Geschichten von Rolf Schächteli. (Bild: Michel Schultheiss)

Er dachte, dass eine Familie im Zentrum stehen sollte. «Der Name Schächteli ist mir einfach zugefallen», erinnert sich Baumgartner. Die Vornamen Rolf, Florian und Sabine fand er im Kinderkreis aus der Nachbarschaft. Mit der Zeit entwickelten die Abenteuer der drei Geschwister eine Eigendynamik: «Romanfiguren leben und machen sich selbständig», erklärt er. Beim Schmieden der Geschichten inspirierten ihn die beiden Enkeltöchter, die oft bei ihm zuhause waren. Der Riehener Grossvater, der immer wieder mit seinem Fasnachtskeller und der Modelleisenbahn in den Märchen auftaucht, ist somit sein Alter Ego.

Sprechende Museumstiere

Baumgartner sieht die Schächteli-Märchen als ein Stück Stadtkunde. Die Geschichten beginnen stets mit genau definierbaren Orten in Basel, die sich plötzlich ins Fantastische wenden. Die ausgestopften Tiere des Naturhistorischen Museums beginnen zu sprechen, auf der Fähre erscheint eine Fee, und Fasnachtskostüme werden plötzlich lebendig. Das Märchen entsteht stets aus einer realen Situation in Basel und geht wieder dahin zurück. «Damit wollte ich die Kinder träumen lassen», erklärt Baumgartner. Da komme halt der Primarlehrer in ihm hervor.

«Meine Naivität spielte auch eine Rolle – gewisse Dinge, die Rolf erlebt, hätten genauso gut auch mir passieren können», meint er schmunzelnd. Gerade deswegen sei die Figur auch lebendig geblieben. Sein Anliegen ist, dass die Kinder nicht nur blind durch die Stadt rennen, sondern auch hin und wieder aufschauen.

Rolf Schächteli war bei Weitem nicht die einzige Märchenfigur Baumgartners: Zusammen mit dem Künstler Mario Grasso belebte er auch Tütü Tanzfuss, Pippo Pappbauch und Zappa Blechkopf, die sowohl in farbigen Kinderbüchern wie auch in Hörspielen auf Abenteuer geschickt wurden. Später erzählte er auch Grimm-Märchen auf Baseldeutsch. Als sich die Anfragen für weitere Projekte häuften, wurde es ihm mit der Zeit einfach zu viel und so wurde es während langer Zeit still um Baumgartners Geschichten.

Fast drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten Hörgeschichten, lange nach dem Kassetten-Zeitalter, wurde Rolf Schächteli wieder zum Leben erweckt. Der frühere Basilisk-Chefredaktor Simon Thiriet – seit seiner Kindheit ein grosser Fan der Schächteli-Geschichten – ermunterte Baumgartner, eine CD-Ausgabe der Märchen zu lancieren, und setzte das Vorhaben zusammen mit seinem Onkel Roger Thiriet und dem Tontechniker Christoph Hohler im Atelier TonTon von Peter Rusch um. Finanziell unterstützt wurde das Projekt von der Zunft zu Hausgenossen. 2013 erschienen schliesslich die Schächteli-Määrli im neuen Format.

Die erste Auflage war bereits wieder schnell vergriffen. Simon Thiriet überrascht das nicht. Wie er betont, könne die Bedeutung der Märchen auch heute noch nicht hoch genug eingeschätzt werden: «Einerseits bekommen die Kinder von Beginn weg wunderbare Geschichten in schönstem Baseldeutsch erzählt, andererseits lernen die Kinder viele verschiedene Seiten der Stadt kennen. So zählen sie etwa wie Rolf Schächteli die Treppenstufen der Stadt und werden neugierig auf die versteckteren Orte in Basel.»

Auf der Suche nach den bizarren Fassaden-Köpfen

Auch der Musiker Aernschd Born, der damals die Titelmusik komponierte und mit dem Synthesizer einspielte, findet die Märchen keineswegs verstaubt. «Sie klingen zeitlos», meint er. Sie verwiesen auf Orte und Dinge in der Stadt, an die man nicht denkt. Aernschd Born nennt zum Beispiel «S Määrli vom Zwäärg», wohl eine der besten Schächteli-Geschichten: Die Fratzen an den Basler Fassaden, die plötzlich lebendig werden, spielen dort eine tragende Rolle. «All die Gesichter hätte ich ohne die Geschichte nicht entdeckt», erklärt Born. «Gehen wir die Köpfe anschauen?» Diese Frage hat wohl schon manch ein Kind gestellt, nachdem es das Märchen gehört hat.



Familie Schächteli, Tütü Tanzfuss und baseldeutsche Grimm-Märchen von Peter Baumgartner: Zeugnisse vom Mundart-Boom in den Achtzigerjahren.

Familie Schächteli, Tütü Tanzfuss und baseldeutsche Grimm-Märchen von Peter Baumgartner: Zeugnisse vom Mundart-Boom in den Achtzigerjahren. (Bild: Michel Schultheiss)

Was die Rezeption der «Määrli» im Internetzeitalter anbelangt, ist Baumgartner selbst etwas weniger optimistisch: «Heute sind es Geschichten für die Erwachsenen – heutige Kinder erwarten mehr Action», meint er nachdenklich. Daher vermutet er, dass Erwachsene sie aus Nostalgie anhören. «Viele Kinder, die ich nun sehe, wollen nicht mehr träumen und staunen, sondern stets alles mit dem Smartphone abklären.»

Um etwas kulturpessimistisch zu werden: Womöglich würde man heutzutage den manchmal etwas depressiv wirkenden Jungen Rolf Schächteli mit Medikamenten stillhalten, statt seinen Geschichten zuzuhören. Baumgartner stellt sich Rolf jedoch nicht etwa als melancholischen, sondern eigentlich als «normalen» Buben vor. Er sei halt noch ein Kind der «alten Schule», der sich für den Käfer und die Blumen im Garten interessiert.

Erinnerungen an die Kriegszeiten

Trotz Nostalgie und dem Schwärmen für die «alten Zeiten», die seiner Meinung nach ab den Achtzigerjahren langsam ihrem Ende entgegengingen: Idealisieren möchte Baumgartner dennoch nicht. Schliesslich weiss er bestens, dass die Kindheit nicht nur schön ist. Noch gut erinnert er sich, als er während des Zweiten Weltkriegs seine elsässische Grossmutter nur am Allschwiler Grenzübergang besuchen konnte. Noch hat er lebhaft vor Augen, wie ihm damals ein deutscher Soldat ein Geschenk für die Grossmutter aus der Hand schlug. Auch weiss er noch, wie während den Kriegsjahren sämtliche Spielsachen aus dem Estrich geräumt werden mussten. Damit erklärt er auch sein Faible für nostalgische Objekte, die ihm damals verwehrt blieben.

Und auch wenn diese Kapitel in den Märchen nicht vorkommen: Er sieht seine Geschichten indirekt als ein Stück Lebensbericht, der fantastisch ausgeschmückt wird: «Konfabulieren ist ein Mittel, dass ich spontan brauche, um die Sachen farbiger zu machen.» Das rote Beret, das «gestohlene Krokodil», der «Motöörlifisch» sind alles Gegenstände, die er bei sich zuhause hat. Bei der Geschichte mit der Hasenburg lässt der einstige Fasnächtler seine Cliquenkollegen auftreten, auch der Feldhase Schnüffi und das Eichhörnchen Fääger haben Vorbilder in der realen Welt – etwa Tiere, die sich in seinen Garten verirrten. «Solche Sachen fallen einem zu, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht», meint Baumgartner.

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Die Märchen von Peter Baumgartner sind (ausser während den Schulferien) nach wie vor etappenweise in der Kindersendung «Binggis & Co.» bei Radio Basilisk zu hören. Die CDs mit den insgesamt 24 Geschichten sind dort weiterhin im Verkauf.

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