Ein neuer Offspace im St. Johann

Im St. Johann wurde eine Werkstatt in einem Abrisshaus zum Freiraum für künstlerische Ideen umfunktioniert. Die Pataphysiker laden darin zu dadaistischen Spinnereien und philosophischen Dialogen.

Im St. Johann wurde eine Werkstatt in einem Abrisshaus zum Freiraum für künstlerische Ideen umfunktioniert. Die Pataphysiker laden darin zu dadaistischen Spinnereien und philosophischen Dialogen.

Zwischennutzung ist eines der Kultur-Schlagwörter im neuen Jahrtausend. Auch in Basel tauchen immer wieder Bars, Clubs und Cafés mit Ablaufdatum auf, demnächst etwa in der ehemaligen Poststelle im St. Johann. Nur wenige Strassen entfernt wurde jetzt ein weiteres Projekt gestartet, das ganz ohne die üblichen Querelen um Zwischennutzungsrechte auskommt. Frank und frei, ohne Zwänge wurde im Hinterhof der Vogesenstrasse 23 eine Ausstellung auf die Beine gestellt, die alles ein wenig anders und deshalb spannend macht.

Wie das funktioniert? «Es ist eben Pataphysik, da geht alles!» Ursle Schneider lacht. Die Fotografin ist zusammen mit ihrem Velokurier-Kollegen Benjamin Schmid die Initiantin der Ausstellung «Pataphysische Topologien». Die beiden haben alles unter dem Hut der Pataphysik gestellt. Diese Lebensphilosophie, so Schneider, sei eine «Wissenschaft für imaginäre Lösungen für nichtexistierende Probleme», eine Art dadaistische Spinnerei, die besagt, dass man nichts unversucht lassen soll, wo doch alles eh zum Scheitern verurteilt sei.

Pataphysik? Nie gehört!
Pataphysik steht für die «Wissenschaft der imaginären Lösungen» und für eine «Wissenschaft des Besonderen». Eine lebensphilosophisch-verspielte Strömung, bei der die Phantasie mehr gilt als die Vernunft – und die individuelle Ausnahme mehr als der statistische Durchschnitt. Als Gründer gilt gemeinhin der französische Autor Alfred Jarry. Im 20. Jahrhundert entstand eine pataphysische Vereinigung, der Künstler wie Max Ernst oder Marcel Duchamp, Komiker wie die Marx Brothers und Schriftsteller wie Eugène Ionesco und Dario Fo angehörten.

Wissenschaft des Lebens und grosse Improvisationsfreude

Wichtig ist auch der zwischenmenschliche Aspekt:«Die Wissenschaft muss nicht immer im Büro stattfinden, sondern kann genauso gut in Gesprächen übers Leben betrieben werden.» Schneider hat das Pataphysische Institut Basel (PIB) gegründet, wo in unregelmässigen Treffen Gespräche über Gott und die Welt geführt werden, fernab vom digitalen Zeitalter. «Wenn ich jetzt an einem anderen Ort wohnen würde und keine Pataphysikerin wäre, dann würde das ganz einfach ein Essen unter Freunden sein, so wird es aber zu etwas Bewusstem, einer Art Feier des Lebens.»

Das fasziniert. «Es gibt Leute, die kommen her und sagen, sie hätten ein solches Basel schon lange nicht mehr erlebt.» Nischen, die einem mit Rhabarberschorle und sorgfältig platzierter Oma-Deko weismachen wollen, dass man lang verlorene Authentizität aufspürt, gibt es in Basel genug. Viel schwieriger zu finden seien Orte, an denen Begegnung und Dialog ohne Lenkung stattfinden. Die Räumlichkeit an der Vogesenstrasse bietet sich dafür hervorragend an: Gleich hinter dem Haus, in dem Schneider in einer WG lebt, erstreckt sich eine alte Werkstatt nach hinten. Die Bewohner haben sich einen Pingpongtisch, eine kleine Werkstatt und eine improvisierte Sauna zusammengeschustert.

Frischer Geist im morschen Gerüst

Bis im nächsten Frühjahr,  wenn die ganze Parzelle abgerissen wird, darf nochmals Leben eingehaucht werden. Und was sagt der Besitzer? «Er hat nicht Nein gesagt.» Das reicht. Ein freier Geist weht durch das morsche Gerüst der alten Werkstatt und es wird klar: Hier passiert etwas, was bei den üblichen Zwischennutzungen schwer zu finden ist. «Nichtkommerziell» und «unabhängig» sind in der Vogesenstrasse 23 keine Floskeln, mit denen man sich schmückt. Im Gespräch fallen sie kein einziges Mal.  

Viel Betrieb schon bei der Eröffnung am Wochenende: Stets laufen Leute ein und aus, ein junger Mann bringt eine verzierte Gitarre, die er präsentieren will («Die Ausstellung ist keineswegs fix, wenn jemand Ideen hat, darf er oder sie hinkommen und mitmachen»), und Hans Hirsch schaut kurz nach seiner Modelleisenbahn, für die er ein imposantes Gerüst gebaut hat, das sich um die Holzpfeiler des Raums windet. Er sieht müde aus. «Ich gehöre nicht hierhin, bin zuhause besser aufgehoben.» Er murmelt noch etwas von Schlafen und verschwindet gleich wieder durch die Tür. Schmid lächelt und erzählt munter weiter. Entschuldigungen braucht es keine, hier muss niemand nichts.

Le Roi, c’est Ubu!

Und jeder darf alles: Gestern sei ein Typ vorbeikommen, der in der Ecke eine Paella-Pfanne sichtete und prompt verkündete, er würde am Samstag zu Ehren seines Geburtstags eine Riesen-Paella machen, für alle Besucher. Schmid und Schneider lachen. «Es ist eben keine Ausstellung, wo man kurz vorbeikommt und dann gleich wieder geht. Es soll eine offene Form sein, man schaut was passiert.»

Genau so haben die beiden auch die Ausstellung realisiert: «Ursle kannte ein paar Künstler aus Finnland und Schweden, die haben was gemacht, dann kamen Ungaren, die wollten eine grosse Säge, die sie hier fanden, mit goldener Farbe anmalen. Unser Nachbar war ebenfalls mit von der Partie – und ich habe mich auf dem Areal umgesehen und Zeug verwertet», sagt Schmid. Dazu gehört unter anderem eine Hellraumprojektor-Maschine, gebaut aus einem alten Laternenrahmen.

Wenn es Probleme gab, schob man einfach alles auf das pataphysische Maskottchen «Roi Ubu», eine Erfindung des französischen Schriftstellers Alfred Jarry. Ubu ist laut Jarry ein gefrässiger, feiger, heimtückischer König und wurde von Schneider und Schmid als praktischer Sündenbock gebraucht. «Wir haben einfach ihn zum Organisatoren erkoren, aloso bekam er immer die Schuld in die Stiefel geschoben, wenn etwas nicht klappte.» Bevor Roi Ubu Hauptinitiant der Ausstellung wurde, war das Holzmännchen die Gallionsfigur einer schwimmenden Sauna.

Loslassen

Und wozu das alles? Braucht es eine Wissenschaft, um die Grenzen der Wissenschaft auszuloten? Schmid nickt. «Ich denke schon. Wir setzen Schwerpunkte neu, entziehen uns dem, was wir unser ganzes Leben lang gelernt haben: Auf etwas hinarbeiten, planen, strukturieren. Für mich ist das unglaublich befreiend.» Je mehr man etwas forciere, desto eher komme man vom Weg ab. Die Erkenntnis bestehe darin, nicht mehr bestimmen zu wollen, wie genau etwas auszusehen hat, sondern es im Dialog herauszufinden. Und der Dialog mit den Besuchern gibt ihnen Recht: «Es gefällt den Menschen, in diese Andersartigkeit einzutauchen. Was nicht heisst, dass eine solche Auseinandersetzung das einzig Richtige ist. Für uns funktioniert sie einfach sehr gut.»

Zwischennutzung ist das Schlagwort der Stunde. Wer wissen will, wofür es alles stehen kann, macht an einem Wochenende im Oktober einmal einen Abstecher in die Vogesenstrasse. Hier existiert dieser Tage ein Basel, das ganz ohne Kommerz auskommt. Und wer sich dennoch finanziell beteiligen will, der kann seine Münzen und Noten dem kleinen König Ubu in den Hintern stopfen – ins Kässeli der Pataphysiker.



Das Programm der Ausstellung «Pataphysische Topologien» an der Vogesenstrasse 23.

Das Programm der Ausstellung «Pataphysische Topologien» an der Vogesenstrasse 23.

 

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