Da ist er wieder, der Friedensnobelpreis: Dieses Jahr geht er an eine im breiten Publikum – zu dem wir ja fast alle gehören – wenig bekannte Organisation mit dem Kürzel ICAN für «International Campaign to Abolish Nuclear Weapons», was zusammengezogen als akronymisches Kürzel «Ich kann» ergibt.
Dieser hohen Anerkennung sind andere Verleihungen an weniger einprägsame Kürzel vorausgegangen, vor Jahren an die OPCW und vor zwölf Jahren an die IAEA. Die eine Organisation kämpft für das Verbot chemischer Waffen, die andere für die friedliche Nutzung der Kernenergie.
Ehrungen von Einzelpersonen bleiben da schon eher im Gedächtnis: die
Friedensnobelpreise für das pakistanische Mädchen Malala (2014) etwa, für den chinesischen Menschenrechtler Liu Xiaobo (2010) oder den US-Präsidenten Barack Obama (2009).
Das Ziel ist im Fall von ICAN nicht nur Frieden, sondern auch eine Welt ohne Atomwaffen.
Die Friedenspreis-Verleihungen gehen an Organisationen und Menschen, die gemäss der Nobel-Zweckbestimmung «am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt» und damit «im vergangenen Jahr der Menschheit den grössten Nutzen erbracht» haben.
Die Entscheide des Nobelkomitees sind – und das ist richtig so – jeweils dem Urteil der Weltöffentlichkeit ausgesetzt. Leichter ist es, eine Meinung über die Preiswürdigkeit der Auserwählten zu haben als über die vielen Nichtberücksichtigten: 318 sollen dieses Jahr angemeldet worden sein (215 Personen und 103 Organisationen). Statt nur die Zahlen sollte man auch die Namen dieser «Short»-Liste mitgeteilt bekommen, was eine gute Nebenwirkung der ganzen Übung wäre.
Die Auszeichnung ist eine doppelte Anerkennung: sowohl des angestrebten Ziels als auch der bereits geleisteten Bemühungen. Das Ziel ist im Fall von ICAN nicht nur Frieden, sondern auch eine Welt ohne Atomwaffen. Die honorierten Bemühungen bestehen vor allem im bisher wenig beachteten und hinter den Kulissen der Weltpolitik geleisteten Einsatz für den kürzlich zustande gekommenen UNO-Vertrag, der ein vollständiges Verbot der Entwicklung und Lagerung von Atomwaffen sowie der Androhung ihres Einsatzes vorsieht.
Am 7. Juli dieses Jahres haben 122 der 193 UNO-Mitglieder für diesen Vertrag gestimmt. Gar nicht gestimmt haben die Atommächte und ihre Verbündeten, sie haben das Verfahren schlicht boykottiert. Dennoch ist am 20. September der Ratifikationsprozess angelaufen, das Vertragswerk wurde zur Unterschrift aufgelegt. Sobald 50 Staaten unterschrieben haben, wird der Vertrag in Kraft treten. Dies dürfte, so die Erwartung, 2018 der Fall sein.
Basisengagement mit Ermutigungspotenzial
ICAN wurde vor zehn Jahren in Australien gegründet, die Kampagne geniesst den Support von VIPs wie dem Dalai Lama und Ban Ki-moon, sie wird aber vor allem von Zehntausenden von Graswurzel-Aktivisten unterstützt und hat eine junge Schwedin, Beatrice Fihn, als Direktorin.
Die mit etwa 945’000 Euro dotierte Auszeichnung beschränkt sich nicht auf die Atomproblematik, sie will auch die Bedeutung von nichtoffiziellen Organisationen, von zivilgesellschaftlich engagierten NGOs hervorheben und würdigen.
Im Kampf etwa gegen Landminen oder im gesamten Bereich des Umweltschutzes sind wichtige und nötige Fortschritte zu einem grossen Teil solchen Basisengagements zu verdanken. Von ihnen geht eine ansteckende Ermutigung aus, die in anderen, sehr unterschiedlichen Bereichen Fuss fassen und Wirkung erzielen kann.
Grassroots-Bewegungen erfordern beinahe
sanfte Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen.
Grassroots-Movements sind, so scheint es, ein Phänomen jüngeren Datums. Sie dürften nach der 68er-Bewegung ihre noch bescheidenen Anfänge genommen haben. Es ist kein Zufall, wenn auch ohne genealogischen Zusammenhang, dass eine inzwischen total in Vergessenheit geratene amerikanische Popband damals unter dem Namen «The Grass Roots» auftrat.
Grassroots-Bewegungen sind nicht mit von Zeit zu Zeit sich vulkanartig freisetzenden Empörungsausbrüchen gleichzusetzen. Sie erfordern beinahe sanfte Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen. Sie sind, sportlich ausgedrückt, keine Kurzstrecken-, sondern Langstreckenläufe, mindestens Marathon, in der Regel auch mehr. In der Würdigung des jüngsten Friedensnobelpreisträgers findet sich nicht zufällig das Wort der «Arbeit», die geleistet wurde.
Unterstützung durch die Schweizer Diplomatie
Der Sitz der ICAN-Bewegung ist in Genf. Ein Teil des vorübergehenden Glanzes dieser Preisverleihung fällt deshalb auch auf die Schweiz. Ein Genfer Magistrat hat denn auch sogleich in Bezug auf die 14 anderen bereits an «Genf» gegangenen Friedenspreise (insbesondere für das IKRK) festgehalten, dass die Friedensnobelpreise zur DNA dieser Stadt gehörten.
Die Schweizer Diplomatie hat das Zustandekommen der Anti-Atom-Vereinbarung unterstützt und am 7. Juli sogar couragiert für den Vertrag gestimmt. Ob die Schweiz ihn aber je unterzeichnen wird, ist noch völlig offen. Das Aussendepartement (EDA) betont, dass Schritte hin zu einer nuklearwaffenfreien Welt grundsätzlich zu unterstützen seien.
Es bestehe aber auch das Risiko, dass mit dieser neuen völkerrechtlichen Norm ältere Bemühungen, insbesondere der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) oder das noch nicht in Kraft getretene Teststoppabkommen, unterminiert werden. Und man könnte sagen, dass das eher realisierbare Nahziel der Vermeidung von Kernwaffenverbreitung wichtiger ist als das wenig realistische Fernziel einer Welt ohne Atomwaffen – sofern das eine das andere ausschliesst.
Das Säbelrasseln nimmt zu
Es ist nicht zu erwarten, dass Atommächte dem Atomwaffenverbots-Abkommen beitreten werden. So stellt sich die Frage, ob das Ziel der Beseitigung von Atomwaffen mit oder gegen die Besitzer solcher Waffen verfolgt werden kann. Handelt es sich also um eine unnütze Aktion, die nur falsche Hoffnungen nährt? Oder kann die Adelung durch den angesehensten Friedenspreis diesen Bemühungen nun Schubkraft verleihen?
Annette Willi von ICAN Switzerland sieht in der Preiszusprache einen wichtigen Meilenstein bei der Ächtung einer Waffe, «die so viel menschliches Leid wie keine andere anrichten kann». Der Preis löse eine internationale Dynamik aus, die mittelfristig auf eine nukleare Abrüstung hinauslaufen könne.
Die Schweiz sollte sich, wie sie es schon mit ihrer Zustimmung im Juli 2017 getan hat, auch mit der Ratifikation an die Seite derjenigen stellen, die für das Atomverbot sind, und zugleich Verständnis für die Haltung gewisser, das Abkommen ablehnender Atommächte aufbringen.
Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Öffentlichkeit durch die bestehende Gefahr eines Atomkriegs beunruhigen lässt.
Die Niederlande beispielsweise haben als einziges Land in der UNO gegen den Vertrag gestimmt. Sie sind zwar keine Atommacht, aber Nato-Mitglied. Und die Nato wird, um das Gleichgewicht des Schreckens zu erhalten, auf diese Möglichkeit der Abschreckung (Dissuasion) nicht verzichten.
Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Öffentlichkeit durch die bestehende Gefahr eines Atomkriegs beunruhigen lässt. Die Staatschefs Nordkoreas und der USA bedrohen sich gegenseitig mit Atomschlägen. Der Iran überlegt sich, ob es angesichts des Drucks der USA nicht besser wäre, sich wie Nordkorea zu verhalten. Auch hier nimmt das Säbelrasseln zu, ohne dass unsere Sorgen entsprechend zunehmen.
Wir sorgen uns um viele Varianten von Sicherheitsgefährdungen: im täglichen Transportwesen, bei Bergstürzen, bei Kinderspielzeugen etc. Die offenbar weniger nahe, weil zu grosse Gefahr eines Atomkriegs, hat in den Alltagsüberlegungen paradoxerweise keinen Platz. Verständlicherweise konzentrieren wir unsere Sorgen auf Bereiche, in denen wir selber etwas ausrichten können, und stellen die ganz grossen Sorgen (etwa auch beim Klimaschutz) zurück.
Ein Signal gegen die Gedankenlosigkeit
Wie ganz anders war die Gefühlslage, als Stanley Kubricks «Dr. Strangelove» (1964) uns das Risiko eines Atomkriegs oder der Film «The Day After» (1983) die Auswirkungen eines Atomschlags vorführten und junge Paare keine Kinder mehr in eine solche Welt setzen wollten.
Das Signal von Stockholm tritt gegen diese Gedankenlosigkeit an. Es geht nicht davon aus, dass das konkret existierende Zerstörungspotenzial schon bald beseitigt werden kann. Die Vergabe könnte aber zusammen mit den Kräften, die den Verbotsvertrag unterzeichnet haben, bei denjenigen die Hemmschwelle anheben, die heute mit beängstigender Unverfrorenheit ihre Atomraketen als verbale Waffen einsetzen.
Wir werden nochmals Gelegenheit haben, uns an die mit der Auszeichnung ins Bewusstsein zurückgeholte Problematik zu erinnern, wenn der Preis am 10. Dezember konkret verliehen wird.