Im Film «Nerve» spielen Tausende von Menschen ein lebensgefährliches Wettspiel – vom Bildschirm aus, mit lebenden Protagonisten. Das ist nicht nur unglaublich abgefahren, sondern auch beängstigend nah an unserer Realität.
Den Moment gibt es selten: Man kommt aus dem Kino raus und muss erst mal tief durchatmen, um die Welt um sich herum wieder richtig wahrzunehmen. Bei Sebastian Schippers «Victoria» war das der Fall, bei Tarkowskis «Stalker» oder bei der grandiosen britischen Mini-Serie «Black Mirror». Produktionen, die es schaffen, die Zuschauer komplett einzunehmen.
Nicht weil sie besonders zugänglich wären, eher im Gegenteil: Sie schaffen abstossende Welten, zu denen man nicht gehören will, von denen man aber genau weiss, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Weil sie das widerspiegeln, worin man sich eigentlich schon befindet.
«Nerve» ist so ein Film. Man spaziert ins Kino, ohne grosse Erwartungen, denn der Trailer lässt nicht die geringste Hoffnung auf einen guten Streifen zu:
Der Fall scheint klar: Ein Online-Spiel, sie alle zu knechten. Zwei junge, gutaussehende Menschen spielen mit und müssen mutige Aufgaben erfüllen, zum Beispiel sich küssen oder ausziehen. Aber nicht ganz, weil logo, Amerika. Und alle schauen jederzeit per Smartphone-Bildschirm zu und können jederzeit kommentieren, weil logo, digitales Zeitalter.
Das Spiel ist oder wird bitterer Ernst und irgendwann stecken die beiden knietief im Social-Media-Sumpf, die «Watcher» wollen immer irrere Stunts, und das Programm plündert ihre Konten, wenn sie sie nicht erfüllen. Staten Island Periscope-Albtraum mit ein bisschen Highschool-Romanze und platter Konsumkritik.
Zum Glück kommt es aber anders.
Periscope mit Game-Charakter
Die Geschichte dreht sich um das Online-Game «Nerve», das tatsächlich wie eine Spiel-Version der Live-Streaming-App «Periscope» daherkommt: Nach dem anonymen Login wird alles, was man mit der Handykamera aufnimmt, live an die Community gestreamt. Jeder, der einen Account hat, kann somit anderen Community-Mitgliedern folgen und an ihrem Leben teilnehmen, als Zuschauer, der direkt in den Livestream hinein kommentieren kann.
«Sieh dir die Welt mit anderen Augen an», lautet der Leitspruch von Periscope. Und genau das ermöglicht die App: Sich in die Welt anderer hineinzutippen und aktiv daran teilzunehmen.
Zu kompliziert? Dieses Video erklärts schrittweise:
Was diese Form von ungefilterter Direktübertragung für Ausmasse annehmen kann, zeigte sich im Mai diesen Jahres, als sich eine 19-jährige Französin vor laufender Handykamera das Leben nahm und Tausende von Periscope-Nutzern ihr dabei zusehen konnten. Ähnlich das Video, das die junge Afroamerikanerin Diamond Reynolds im Juli auf Facebook postete: Ihr Verlobter Philando Castile, der blutüberströmt auf dem Autositz neben ihr im Sterben liegt, kurz nachdem er von einem Polizisten angeschossen wurde.
Die tragischen Live-Bilder, die sich sekundenschnell im Netz verbreiteten, schockierten weltweit. Und warfen Fragen auf: Wie weit dürfen Online-Dienste gehen? Was haben Periscope und Co. für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft? Unsere Newskultur? Unser moralisches Bewusstsein?
Watcher, Player und waghalsige Aufgaben
Wo Periscope ansetzt, wagt sich «Nerve» noch einen Schritt weiter in die Dystopie: Hier wird alles unter den Konditionen eines Spiels verhandelt. Die User wählen bei der Registrierung ihre Rollen, entweder «Watcher», also Zuschauer, oder «Player», also Spieler. Und dann geht das Spiel los: Als Watcher kann man sich für 20 Dollar im Monat in die Leben aller Player hineintippen, direkt in den Livestream hineinkommentieren und ihnen Aufgaben stellen.
Die Player können wählen, ob sie die Aufgaben annehmen oder nicht. Je waghalsiger die Aufgaben, desto mehr Geld kriegen sie. Wenn sie eine Aufgabe nicht bewältigen, verlieren sie alles, was sie bisher gewonnen haben. Je mehr sie wagen, desto mehr Watcher kriegen sie, und je mehr Watcher sie haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Finale kommen, wo zwei Player um eine grosse Geldsumme die ultimative Aufgabe erfüllen müssen.
Peer Pressure und schnelles Geld sind eine giftige Kombination. Es dauert nicht lange, bis sich die ersten Player in lebensbedrohliche Situationen begeben – angefeuert von den Watchern, die in einem Zustand gefährlicher Schwarm-Mentalität (Och, die anderen haben auch dafür gestimmt, dass sich der Junge unter den Zug legt – dann kanns nicht so schlimm sein, wenn ich das jetzt auch tue) mit immer wahnsinnigeren Aufgaben anrücken.
Stell dir vor, es ist Krieg und alle schauen hin
Mitten in diesem Umfeld lernen sich die beiden Teenager Vee (kurz für Venus, um dem recht witzlosen Plot ein paar halblustige Sprüche zu ermöglichen) und Ian kennen. Ian sitzt in einem Café und liest Virginia Woolfs «To the Lighthouse». Vee muss als erste Aufgabe einen Unbekannten küssen und wählt Ian, da «To the Lighthouse» ihr Lieblingsbuch ist.
Was wie der perfekte Beginn einer Romanze klingt, war in Wahrheit bereits von Anfang an von den Watchern geplant: Mit der Registrierung zapft die App alle Infos über eine Person, die diese je im internet hinterlassen hat, an. Vee hat als ihr Lieblingsbuch «To the Lighthouse» angegeben, also stellten die Watcher Ian die Aufgabe, er solle sich mit diesem Buch ins Café setzen.
Es ist der erste Hinweis darauf, dass sich die beiden Hauptdarsteller in eine Welt begeben haben, in der die Kontrolle nicht mehr bei ihnen liegt. Vee und Ian vollführen immer irrsinnigere Aufgaben, bekommen immer mehr Watcher und landen schliesslich in der finalen Arena, wo dem Zuschauer schmerzhaft vor Augen geführt wird, wie weit Menschen gehen können, die sich in der Anonymität des Internets und im Schutz der Crowd ihrer Sensationslust hingeben. Wie eine grausame 2.0-Version des berühmten Sandburg-Satzes: Stell dir vor, es ist Krieg und alle schauen hin.
Näher als man denkt
Diese Themen sind nicht neu, das ist auch dem Millennial bewusst, der sich diesen Film anschaut. Während die älteren Generationen im Kinosessel nebenan mit jeder Szene ein bisschen geschockter nach Luft schnappen, ist sein Gefühl weit unangenehmer. Denn er weiss: Kein Jahr und so ein Spiel wird es auch ausserhalb der Kinosäle geben. Bereits heute organisieren Menschen Wetten, schütten sich einen Kübel Eiswasser über den Kopf und teilen das Video auf digitalen Kanälen. Oder machen sich einen ganzen Beruf daraus, ihr Leben auf Instagram zu vermarkten.
In einem Artikel über das Aufkommen von Live-Streaming-Apps schreibt Marie Schmidt in der «Zeit»: «Gerade weil die Welt so voller Bilder ist, dass es schwerfällt, an eine kohärente Realität zu glauben, gibt es offenbar einen Impuls, die schiere Faktizität des Moments zu sichern. Als werde durch die Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit, Abbildung und den Reaktionen des Publikums ein Ereignis intensiver oder noch realer.» Per Stream zum ultimativen Erlebnis – da wirkt «Nerve» wie der nächste logische Schritt.
Was nicht bedeutet, dass der Film ohne Schwächen ist. Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Brisanz ist «Nerve» halt eben doch ein amerikanischer Blockbuster. Und scheut sich nicht, die ganzen Blockbuster-Register zu ziehen: Gewalt (möglichst offenkundig), Liebe (möglichst unschuldig), Intrigen, Zickereien und eine gehörige Portion Product Placement. Das alles ist vor dem Hintergrund dieser schlauen Geschichte jedoch erheblich irrelevant.
Wie war das noch mal? Sie schaffen abstossende Welten, zu denen man nicht gehören will, von denen man aber genau weiss, dass man sich in Wahrheit bereits in ihnen befindet? Check. Game over.
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«Nerve», ab 8. September im Kino.