Ein unermüdlicher Kampf für die eigene Sprache

Marina Ribeaud kam gehörlos zur Welt – und fand über die Gebärdensprache den Weg aus der Sprachlosigkeit. Heute ist die 40-Jährige so redegewandt wie ihr hörender Mann und ihre drei ebenfalls hörenden Kinder. 

Marina Ribeauds Kinder wachsen zweisprachig auf: Mit der Gebärdensprache und der Lautprache. (Bild: Michael Würtenberg)

Marina Ribeaud kam gehörlos zur Welt – und fand über die Gebärdensprache den Weg aus der Sprachlosigkeit. 

Was für unsereiner selbstverständlich ist – reden, zuhören, antworten –, ist bei der Familie Ribeaud/Lautenschlager aus Allschwil speziell: Marina Ribeaud ist gehörlos, ihr Mann Patrick Lautenschlager (46) sowie die Kinder Malik (9), Zora (6) und Kyra (4) sind Hörende. Das heisst, die Kinder wachsen zweisprachig auf, mit der Gebärdensprache und der Lautsprache.

Manchmal – besonders, wenn sie aufgeregt sind – benutzen sie beide Sprachen gleichzeitig. So wie jetzt: Die Mädchen kommen durchnässt, mit strahlenden Augen und roten Backen vom Garten herein. Mit Gebärden erklären sie der Mutter, in gesprochenen Worten dem Vater, dass die Eisdecke im Plantschbecken nicht gehalten hat. Der Vater nimmt sich ihrer an, sorgt für trockene Kleider.

Am Defizit orientiert

Wir sitzen am Familientisch, einem runden Tisch. Bei Gehörlosen, sagt Marina Ribeaud, sei das üblich. Sie müssen ihren Gesprächspartnern direkt gegenübersitzen, Blickkontakt haben, Gebärden sehen können. Marina spricht schnell, ihre Hände wirbeln hin und her. Die Dolmetscherin, die zu diesem Gespräch mitkam, braucht volle Konzentration.

Der Lärm der Kinder lenkt sie ab; Patrick gibt seiner Frau zu verstehen, dass er mit ihnen nach oben gehe. Er sei in der Gebärdensprache ohnehin nicht so sattelfest, dass er viel Substanzielles zu diesem Gespräch beitragen könne. Ach, und wie bitte kommuniziert ein Paar, das nicht die gleiche Sprache spricht?

Marina lacht, und Patrick sagt: «Viel bewusster.» So nebenbei dem anderen etwas zu sagen, sei nicht möglich. «Wir müssen zusammensitzen, einander ins Gesicht sehen.» Zwischen ihnen beiden gebe es deshalb weniger Missverständnisse als zwischen zwei Hörenden, ist Patrick überzeugt. Marina gibt ihm recht: Zu den Gebärden, von denen ihr Mann sehr wohl einige beherrsche, kämen noch Blickkontakt und Mimik. «Wir sehen uns immer an, wenn wir miteinander reden, auch wenn ich die Stimme und die Töne nicht höre – am Gesichtsausdruck lässt sich vieles heraus hören.»

Zudem kann Marina, wenn jemand deutlich formuliert, vom Mund ablesen. Das ist das, was ihr in der Gehörlosenschule beigebracht wurde.
Leider, sagt sie, baue man in der Ausbildung der Gehörlosen heute noch vor allem darauf. «Man orientiert sich an der Lautsprache, der Sprache der Hörenden – und dementsprechend am Defizit von uns Gehörlosen, das es aufzuholen gilt.» Ein vollkommen falscher Ansatz, sagt Marina.

Egal wie gut jemand von den Lippen lesen könne, ein gehörloser Mensch habe in der Lautsprache immer ein Defizit. Ganz anders mit der Gebärdensprache. «Das ist meine Sprache, hier habe ich den ganzen Wortschatz zur Verfügung, den Hörende auch haben, mit ihr kann ich reden, erzählen, diskutieren.» Marinas Hände fliegen, die Sätze sprudeln, die Dolmetscherin übersetzt simultan, ich komme kaum nach mit Schreiben.

Gebärdensprache war verboten

Die Gebärdensprache habe ihr eine neue Welt eröffnet, erzählt sie. Gelernt hat sie sie zunächst von den anderen Kindern in der Gehörlosenschule in Riehen. Nicht etwa von den Lehrpersonen. «Von ihnen sprach keine die Gebärdensprache, ja, sie war offiziell sogar verboten.» Sie hätte der Integration der «Behinderten» in die Welt der «Nichtbehinderten» im Weg gestanden.

Dabei wisse man heute aus der Sprachwissenschaft, sagt Marina, dass der Spracherwerb in den ersten Lebensjahren für den Aufbau der Denkstrukturen enorm wichtig sei. Das gelte auch für gehörlose Kinder. Aber im Gegensatz zu einem hörenden Baby, das die Sprache unbewusst – über die Akustik – lernt, «muss man einem gehörlosen Baby ganz bewusst die Sprache beibringen». Ihm die Zeichen, die Gebärden zeigen, mit denen es sich ausdrücken kann. So, wie das Marina ihren Kindern von klein auf gezeigt hat.

Fünf Dialekte in der Deutschweiz

«Bei mir waren die ersten Jahre, was das betrifft, eine verpasste Zeit.» Dabei hatte Marina noch Glück. Ihre Mutter habe sie gefördert, so gut sie konnte. Sie habe ihr unendlich viele Zettelchen geschrieben – «Tisch, Stuhl, Buch» – und so den Dingen einen Namen gegeben. Und Marina war ein wissbegieriges Kind. «Hartnäckig», sagt sie, «ich liess mich nicht unterkriegen.»

Nach den Primarschuljahren in Riehen besuchte sie in Zürich die Sekundarschule für Gehörlose. Die Gebärdensprache wurde auch dort nicht unterrichtet, war aber unter den gehörlosen Jugendlichen selbstverständlich. Logisch, findet Marina. «Alle Menschen reden in der Sprache, in der sie sich am besten verständigen können.»

In der Deutschweiz gibt es fünf Schulen für Gehörlose – in Basel, St. Gallen, Luzern, Bern und Zürich – und dementsprechend fünf Dialekte in der Gebärdensprache. Ja, selbstverständlich gebe es auch in der Gebärdensprache verschiedene Sprachen. Marina spricht Hochdeutsch «und ein wenig Französisch». Die Mundart beherrscht sie nicht.

Schlüsselmoment und Gänsehaut

Marina machte eine Lehre als Offsetmonteurin, ihr Traum, die Matura zu machen, schien unerreichbar. «Alle sagten, das sei für eine Gehörlose unmöglich.» Sie könne froh sein, überhaupt eine Lehrstelle gefunden zu haben. Nach der Lehre erfuhr sie von einem Institut in Zürich, das sich mit Gebärdensprache befasste und auch eine Ausbildung zur Gebärdensprachlehrerin anbot. «Das war ein Schlüsselmoment in meinem Leben», sagt Marina, «ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.»

Plötzlich konnte sie ohne Mühe verstehen, was gesprochen wurde. «Ich konnte mich endlich auf die Inhalte konzentrieren, nachfragen, mitdiskutieren.» Und sie verstand, was nicht richtig gelaufen war: «Wir hatten keine erwachsenen Identifikationsfiguren, wir dachten, wenn wir gross sind, geht alles besser.» Stattdessen hatte man ihnen den Zugang zu der Welt der Gehörlosen verwehrt – im Glauben, nur die der Hörenden sei die richtige.

Als Marina schwanger war, suchte sie Lehrmittel, um ihrem Kind die Gebärdensprache – seine Muttersprache – beibringen zu können. In der Schweiz gibt es immerhin rund 10 000 gehörlose Menschen. Sie fand nichts. «Ich wusste um die Gefahr von Sprachschwierigkeiten bei hörenden Kindern von gehör­losen Eltern, wenn diese ihnen nur die Lautsprache zu vermitteln versuchen.»

Marina, die Hartnäckige, entschloss sich, selbst zu schaffen, was fehlte: Sie gründete 2006 zusammen mit ihrem Mann den Verlag «fingershop.ch» und gab ihr erstes Gebärdenbuch für Kinder heraus. Heute ist «fingershop.ch» nicht nur eine Verkaufsstelle für diverse Lernprogramme, sondern auch eine Informationsplattform zum Thema Gebärdensprache. Unterstützt vom Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern.

Marina Ribeaud ist ein bisschen stolz auf das Erreichte. Sie sagt zwar: «Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein sollten – dass die Gebärdensprache und ihre Kultur die gleiche Anerkennung wie die Lautsprache erfährt –, aber ich spüre eine positive Bewegung.» Und Marina ist mit Sicherheit eine von denen, die sie etwas angeschoben haben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.02.12

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