Fast genau zehn Jahre liegt der 13. Mai 2006 zurück und damit die bisher schwersten Ausschreitungen im Schweizer Fussball. Damals stürmten nach dem in der letzten Minute verspielten Meistertitel im Spiel gegen den FC Zürich Basler Fans den Innenraum des St.-Jakob-Park. Anschliessend kam es ausserhalb des Stadions zu massiven Krawallen mit 115 Verletzten und über 400’000 Franken Sachschaden.
Seither ist viel passiert. Sowohl in der Arbeit des FC Basel mit seinen Fans als auch auf politischer und gesetzlicher Ebene, auf denen mit dem sogenannten Hooligan-Konkordat vor allem an der Repressionsschraube gedreht wurde. Trotzdem kam es in den vergangenen Jahren immer wieder an den unterschiedlichen Schauplätzen des Schweizer Fussballs zu Randalen.
Eine andere Qualität des Gewaltausbruchs
Was am Sonntag im Anschluss an die Partie FCB–FCZ geschah, ist der gravierendste Vorfall seit 2006. Die Eskalation der Gewalt hat auch deshalb eine andere Qualität, weil sie nicht bekannten Mustern entspricht: Es war kein Aufeinandertreffen zweier rivalisierender Fangruppierungen und auch keines zwischen Gästefans und Polizei, sondern eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Polizei und Anhängern des Heimteams.
Während 2006 ein verlorenes Spiel Auslöser der Eskalation war, deutete am Sonntag nach dem Unentschieden nichts auf ein Nachspiel hin.
Warum es dennoch zu einem Gewaltausbruch kam, arbeiten wir anhand der drei Hauptschauplätze auf. Die TagesWoche hat mit Augenzeugen und Behörden gesprochen, Auskünfte eingeholt und Bildmaterial gesammelt. Daraus haben wir versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren.
Schauplatz Birsstrasse
Eine ungeklärte Frage ist, was der Auslöser für die Ausschreitungen war.
Dazu gibt es eine mündliche Schilderung eines Augenzeugen (Person der Redaktion bekannt). Demnach sind zeitlich um den Schlusspfiff im Stadion gegen 15.40 Uhr einige FCB-Fans damit beschäftigt, Gegenstände aufzuräumen, die für den Verkaufsstand der Muttenzerkurve auf der Eventplattform benötigt wurden. Kisten werden die Treppe von der Eventplattform hinab an die Birsstrasse getragen und in ein am Strassenrand geparktes Fahrzeug verstaut. Diese Aufräumarbeiten, heisst es, seien im Sicherheitsdispositiv der Polizei abgemacht und geduldet.
Dann kommt es der Schilderung zufolge zur ersten heiklen Situation. Die Polizei marschiert mit einigen Kräften offenbar sehr nahe an diesen Fans vorbei. Angeblich auf einer Route, die sie bei anderen Spielen zuvor nicht gewählt habe. Dies hätten die Fans als Provokation empfunden. Einer von ihnen schlägt gemäss Augenzeugenbericht einem der Polizisten auf das Schutzschild. Daraufhin soll die erste Ladung Gummischrot ohne Vorwarnung und aus kurzer Distanz abgefeuert worden sein.
Diese Darstellung ähnelt einem weiteren (anonymen) Augenzeugenbericht:
«Die Fans verliessen zusammen das Stadion, nachdem das Material wie gewohnt verstaut worden war. Gerade als sie auf der Plattform waren und sich ein Teil von ihnen bereits unten an der Strasse (Richtung Birs) befand, marschierte eine grössere Gruppe Polizisten (vielleicht auch Polizistinnen) in Vollmontur knapp an den Fans vorbei. Im Zuge dieser Begegnung provozierten einzelne Fans die Polizisten verbal und bespuckten sie. Die Polizisten blieben vorerst ruhig, nahmen aber dann die Treppe vor, statt wie gewohnt nach dem Turm, um zum Absperrgitter zwischen den Gleisen und der Plattform zu gelangen. Hierbei muss angefügt werden, dass sich die Polizei normalerweise bereits bei selbigem Absperrgitter befindet, wenn die Kurve das Stadion verlässt. Wieso dies gestern nicht der Fall war, erschliesst sich mir nicht. Das Konfliktpotenzial wäre um einiges kleiner gewesen, hätte die Polizei die Treppe hinter dem Turm genommen oder wäre bereits dort gewesen, als die Fans das Stadion verliessen.»
Ein anderer Augenzeuge schildert die Situation an der Birsstrasse offenbar wenige Minuten vor der Eskalation auf der Eventplattform und berichtet vom Einsatz von Gummischrot:
«Ich habe nach dem Spiel auf meine Freundin auf der Treppe hinter der Muttenzerkurve gewartet. Alles war friedlich. Und es lag nichts in der Luft. Auf einmal tauchten etwa 40 bis 50 Polizisten in Kampfmontur und mit Waffen auf (ich denke, dass sind dieselben Polizisten, die sich normalerweise unter der Eisenbahnbrücke bei der Birs befinden). Diese wollten wohl den Aufgang zum Gleis bewachen. Anstatt (wie bisher immer vage wahrgenommen) die hintere Treppe hinter dem St.-Jakob-Turm zu benützen, liefen die Polizisten mit den Gewehren im Anschlag mitten durch die herausströmenden Fans. Bei der Autogarage wurden diese von Fans beschimpft (weder beworfen noch angegriffen, bloss beschimpft). Der letzte Polizist in der nach oben marschierenden Reihe schoss dann aus circa 1,5 Meter Entfernung auf Kopfhöhe auf die ihn beschimpfenden Fans. Dann ging es los und ich nach Hause.»
Auf Nachfrage der TagesWoche, was konkret der Auslöser des Mitteleinsatzes war, gab Polizeisprecher Martin Schütz am Montag folgende Antwort:
«Mitarbeiter der Kantonspolizei hatten nach dem Spiel das Tor zum Bahnperron sichern wollen. Sie kamen unter Druck und baten daher um Unterstützung. Als Polizeikräfte sich der Eventplattform näherten, wurden diese aus dem Nichts und grundlos in heftigster Weise angegriffen. Sie wurden mit Flaschen, Petarden und anderen Gegenständen beworfen sowie teilweise direkt handgreiflich angegangen. Um das eigene Leben und das Leben unbeteiligter Dritter zu schützen, mussten die Polizistinnen und Polizisten Mittel einsetzen.»
Schauplatz Eventplattform
Als die Polizisten die Treppe zur Eventplattform vor dem Stadion hochgehen, kommt es zur nächsten Konfrontation mit FCB-Anhängern. Die Szenen sind auf mehreren Amateurvideos festgehalten. Zwei Polizisten, das ist zu sehen, werden körperlich attackiert, dann formieren sich die Sicherheitskräfte neu, feuern Gummischrot und Tränengas in die anschwellende Menge.
Auf die Frage, wer den Befehl gegeben hat, Gummischrot einzusetzen, antwortet Polizeisprecher Schütz: «Es handelte sich um Notwehr und Notwehrhilfe. Zum Einsatz kamen Gummischrot, Reizstoff und der Polizeimehrzweckstock.»
Unbeteiligte in Gefahr
Die Krawalle auf der sogenannten Eventplattform vor dem Stadion dauern rund 15 Minuten. Dabei kommt es auch für Unbeteiligte zu gefährlichen Situationen. Wie bei Hochrisikospielen üblich, wird das gesamte Stadion bis auf den Gästesektor über den Ausgang Muttenzerkurve entleert. So soll verhindert werden, dass sich Fans beider Clubs in die Quere kommen.
Doch an diesem Sonntag führt diese Anordnung viele Matchbesucher direkt in die Falle. Ein Familienvater schildert der TagesWoche, wie er mit seinen beiden Kinder mitten in den Krawall geriet:
«Für mich ist es unverständlich, dass wir (meine beiden Kinder und ich) auf der Birsseite noch rausgelassen wurden. Hinter uns schnitt uns die Polizei den Weg ab und vor uns die Randalierer, welche sich innert kürzester Zeit maskierten und Metallstangen verteilten. Zwischen den Fronten hat dann mein Sohn ein Gummigeschoss ans Bein bekommen. Ein Geschoss surrte Zentimeter vor meinem Gesicht durch und meine Tochter (7 Jahre alt) meinte, ob uns die Polizei jetzt erschiessen würde. Definitiv kein Familienausflug dieses Spiel.»
Augenzeugen berichten der TagesWoche von mehreren verletzten Personen, die auf dem Beton liegen geblieben sein sollen. Eine Person soll aus einem Auge stark geblutet haben, sie sei an Ort und Stelle ärztlich versorgt worden. Ein Patient der Augenklinik erzählt der TagesWoche von mehreren eingelieferten Fans. Er berichtet auch von mindestens einem Fall, in dem eine durch Gummischrot verletzte Person das Augenlicht auf einem Auge verloren haben soll.
Das Unispital – zu dem die Augenklinik gehört – gibt keine Auskünfte über die Zahl der Verletzten und die Schwere der Verletzungen bei Matchbesuchern. Die Medienstelle teilt mit, dass das Justiz- und Sicherheitsdepartement zuständig sei. JSD-Sprecher Schütz sagt: «Uns sind bis dato keine Verletzungen gemeldet worden.»
Zwei Personen verhaftet
Bekannt gegeben wird die Zahl der verletzten Polizisten: Acht sind es auf Basler Seite, einer (siehe unten » Schauplatz Parkplatz) auf Baselbieter. Zwei davon waren kurzfristig in Spitalpflege.
Zwei Personen, einen 21-Jährigen und einen 17-Jährigen, hat die Polizei während der Ausschreitungen festgenommen. Gegen sie und gegen weitere unbekannte Täter ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruchs, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Körperverletzung und Sachbeschädigung.
Der TagesWoche wird ein weiteres Video zugespielt. Die Aufnahmen zeigen, wie eine grössere Gruppe Vermummter auf der Birsstrasse Richtung Schänzli beziehungsweise Schwimmbad davonzieht.
Schauplatz Parkplatz
Nachdem die gewalttätigen FCB-Anhänger vom Stadion über die Birsstrasse flüchteten, kommt es vor der St. Jakobshalle zu einem gravierenden Zwischenfall. Darüber, was auf dem Parkplatz vor der Halle geschah, ist noch wenig bekannt. Gemäss Polizei Basel-Landschaft schlug eine «unbekannte Täterschaft» dort einen 53-jährigen Polizisten nieder und setzte danach ein Dienstfahrzeug in Brand. Bei der TagesWoche hat sich ein Augenzeuge gemeldet, der das Geschehen aus nächster Nähe verfolgt hat.
«Ich kam aus der Grün 80 auf den Parkplatz. Dann erschien zwischen Eishalle und St. Jakobshalle eine Gruppe Vermummter im Laufschritt. Es waren zwischen 40 und 50 Personen, fast alle trugen dunkle Kapuzenjacken mit rotblauen Streifen. Ich stand etwa 40 Meter entfernt von ihnen. An der südöstlichen Ecke des Parkplatzes hielten sie an, es gab ein kurzes Handgemenge. Als sie weiterrannten, sah ich, wie sich ein Polizist von dort entfernte. Er blutete im Gesicht und hielt sich eine Hand ans Auge. Die Gruppe setzte ihren Weg fort und lief direkt zu einem dort parkierten Polizeifahrzeug. Sie umringten das Auto und schlugen mit Steinen darauf ein. Ich sah, wie auf der Rückseite des Fahrzeuges eine Fackel gezündet wurde. Dann verlor ich die Fackel aus den Augen. Kurz darauf begann es aus dem Fahrzeug heftig zu rauchen, und während sich die Gruppe in Richtung Kutschenmuseum zerstreute, sah ich, wie Flammen aus dem Polizeiauto schlugen.»
Gemäss dem Augenzeugen hielten sich zu dieser Zeit kaum Menschen auf dem Parkplatz auf. «Es gibt vielleicht vier weitere Zeugen, die Polizei aber war weit und breit nicht zu sehen.» Er habe später versucht, mehrere Beamte anzusprechen, um ihnen zu berichten, was er gesehen habe. «Doch sie zeigten wenig Interesse und waren offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt.»
Was unklar ist:
– Wie viele verletzte Matchbesucher gab es? Wie schwer sind die Verletzungen?
– War es richtig, alle Besucher durch denselben Ausgang aus dem Stadion zu leiten?
– Wählte die Polizei eine andere Route zum Bahndamm als üblich? Wenn ja, warum?
– Weshalb stand die Polizei beim Schlusspfiff nicht bereits beim Aufgang zum Bahnsteig?
Antworten auf die offenen Fragen könnte es nach einer Sitzung geben, die für Dienstag anberaumt ist. Daran nehmen die Polizei sowie Vertreter von FC Basel und Fanarbeit Basel teil, um die Ausschreitungen aufzuarbeiten.