Eine Stadt versinkt im Rausch der Titanic

Belfast will mit einem titanischen Museum jährlich 290 000 Touristen anlocken. Ob das gelingen wird? Die Skepsis ist gross.

Nach 100 Jahren wurde in Belfast erneut ein Prestigeobjekt gebaut: Das Titanic-Museum gibt tiefe Einblicke – und setzt dabei auf modernste Technologie. (Bild: DAVID MOIR/Keystone)

Belfast will mit einem titanischen Museum jährlich 290 000 Touristen anlocken. Ob das gelingen wird? Die Skepsis ist gross.

Vor 100 Jahren glitt das grösste bewegliche Objekt, das bis dahin von Menschenhand gebaut worden war, aus der Werft in den Meeresarm von Belfast. Drei Jahre lang hatte die Bevölkerung der nordirischen Stadt staunend mitverfolgt, wie die enorme Hülle der RSS Titanic zusammengebaut wurde, Niete für Niete, in der weltbekannten Werft von Harland & Wolff. Die Taufe war ein grosser Tag für die Stadt: Tausende Zuschauer, Würdenträger und über 100 Journalisten verabschiedeten das auslaufende Schiff winkend und rufend.

13 Tage später sank die Titanic auf den Grund des Atlantischen Ozeans, 1517 Passagiere verloren ihr Leben. «Die Nachricht schockierte ganz Belfast», sagt Susie Millar, deren Urgrossvater an Bord war und ertrank. «Die Bevölkerung empfand es als grosse Schmach. Die Menschen fühlten sich bestraft dafür, dass sie einen solch grossen Stolz aufgebaut hatten.» Zwei Generationen lang sei die Stadt beschämt gewesen für das, was passiert ist, sagt Millar. «Statt einen Umgang damit zu finden, haben wir es, ganz typisch für Nordirland, unter den Teppich gewischt.»

Nach 100 Jahren ist die Stadt darüber hinweggekommen: Über die Ostertage findet das Titanic Belfast Festival statt, eine «Sammlung internationaler Events», mit der an das Ereignis erinnert wird – damals eine riesige Tragödie, ist man auf die Titanic heute wieder stolz – und sieht den Luxusdampfer als potenziell lukrative Cashcow.

Untergang und Auftrieb

Sieben verschiedene Inszenierungen, in welchen der Untergang des Schiffs eine Rolle spielt, werden derzeit in der Stadt aufgeführt – hinzu kommt «Titanic: Das Musical» im Opernhaus. Zudem wurden zwei Chorwerke in Auftrag gegeben und eine Gedenkstätte beim Rathaus eingeweiht.

Auf der Gleitbahn, über die das Schiff einst ins Wasser gelassen wurde, finden interaktive Lichtshows und Popkonzerte statt: «MTV präsentiert titanische Klänge», heisst es in der Ankündigung, so will etwa der Jamaikaner Sean Paul das Eis zum Schmelzen bringen. Und dort, wo vor 100 Jahren der Stapellauf stattfand, wird heuer auch die irische Motorrallye gestartet.
Damit nicht genug: Im Belfast Lough, einem 19 Kilometer langen, beiderseits von Anhöhen gesäumten Meeresarm, können thematische «Hen Nights» (Polterabende) gebucht werden, in der Stadt locken Bustouren – und lokale Essstände werben mit ihren «Titanic Pommes»: «Alles an Bord, für nur 60 Pence!»
Die grösste und protzigste Attraktion ist aber Titanic Belfast, das Museum, das am vergangenen Wochenende eröffnet wurde. Die 100 Millionen Pfund (144 Millionen Franken) teure Besucherattraktion wurde auf der ursprünglichen Rampe, über welche die Titanic vom Stapel lief, gebaut.

Guggenheim als Vorbild

Die Stadt erhofft sich davon dieselbe Wirkung wie die des Guggenheim-Museums für die spanische Stadt Bilbao. Als Vorbild dient auch Hollywoods Filmemacher James Cameron, der aufzeigte, wie sich die furchtbare Tragödie erfolgreich vermarkten lässt.

Es ist nicht schwer zu sehen, wofür das viele Geld ausgegeben wurde: Im Innern machen einen Originalfotos und Videotechnik, Computeranimationen und 3D-Effekte, nachgebauten Kabinen und ein Ritt in hängenden Wagen staunen. In neun Galerien wird die Geschichte der Schiffskonstruktion auf der damals umtriebigsten Werft der Welt erzählt: vom Bau über den Stapellauf bis zum katastrophalen Ende. Das Gebäude selbst ist nicht weniger atemberaubend: ein funkelnder Gigant, der zugleich an das White-Star-Line-Logo erinnert, an das Schiff und an den Eisberg, der es sinken liess. «Ich bin gespannt auf die Spitznamen, die die Belfaster Bevölkerung dem Gebäude geben wird», sagt der führende Architekt Angus Waddington.

Das Gebäude überragt die maroden, edwardianischen Zeichenbüros, die dahinter liegen und in denen Schiffe wie die Titanic einst designt wurden. Die Ambitionen mit Titanic Belfast sind aber noch grösser. Es schmeichle ihm natürlich, wenn man es mit dem Guggenheim-Museum vergleiche, sagt Waddington. «Ich denke, die Leute verwenden diese Referenz, weil Guggenheim für Bilbao so viel bewirkt hat. Die Schiffsbau- und Industriestadt Belfast hofft ebenfalls, sich neu zu erfinden.»
Ebenso optimistisch ist Tim Husbands, der Geschäftsführer von Titanic Belfast, für den die Attraktion ein Produkt ist, das den Tourismus in Nordirland nachhaltig verändern könnte: «Ich sage das nicht ohne gute Gründe: Wir haben vor neun Monaten mit dem Marketing begonnen und bereits über 80 000 Eintrittskarten verkauft. In neuen aufstrebenden Märkten wie China, Indien und Australien stellen wir ein erhebliches Interesse an diesem Produkt fest – ein Interesse, wie es Nordirland noch nie gekannt hat. Auf der ganzen Insel gibt es kein touristisches Produkt, das auf diese Weise vermarktet wird.» Die Betreiber des Museums sagen allein für die verbleibenden neun Monate dieses Jahres einen Umsatz von 24 Millionen Pfund (34 Millionen Franken) voraus – Geld, von dem das gesamte regionale Gewerbe profitieren soll.

Zweifel und Zurückhaltung

Es gibt aber auch skeptische Stimmen. Die nordirische Prüfstelle für öffentliche Gelder zweifelt daran, dass der Breakeven, also die Gewinnzone, erreicht werden kann. Titanic Belfast bräuchte dafür 290 000 Besucher pro Jahr. Sollte diese Zahl nicht erreicht werden, so die Prüfstelle, würde die langfristige Zukunft des Gebäudes infrage gestellt.

Die Prüfstelle setzte die Baukosten (mehr als die Hälfte, 86 Millionen Franken, wurden mit öffentlichen Geldern bezahlt) den erwarteten Besucherzahlen gegenüber und kam zum Schluss, dass Titanic Belfast zu den verhältnismässig teuersten Attraktionen dieser Welt gehöre. Auch Mike Smyth, Professor an der University of Ulster und ein angesehener Ökonom des Landes, äussert sich gegenüber dem «Guardian» skeptisch: In seinen Augen sollte man das Tagesgeschäft jenen überlassen, die wissen, wie eine solche Attraktion erfolgreich geführt wird – etwa dem Disney-Konzern.

Zweifel dieser Art prallen an Geschäftsführer Husbands ab. Für ihn ist Titanic nach Coca-Cola die zweitgrösste Marke der Welt. «Bereits heute gibt es auf der ganzen Welt Attraktionen, die mit dem Begriff Titanic ein gutes Geschäft machen, ohne irgendeine plausible Verbindung zum Schiff zu haben. Wir können gar eine authentische Geschichte erzählen. Aus diesem Grund bin ich von der Langlebigkeit von Titanic Belfast überzeugt.»

Ob das so sein wird, hängt nicht nur von den Museumsbesuchern ab. Die obersten Stockwerke, die auch die beste Aussicht bieten, enthalten ein Konferenz- und Bankettzentrum. Hier haben die Bauherren eine täuschend echte Replika der weitläufigen Treppe eingebaut, die sich durch Camerons Verfilmung in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat. «Normale» Besucher, die 20 Franken Eintritt zahlen, werden sie nicht zu Gesicht bekommen.

Kritik und Euphorie

1912 lebten viele der 15 000 Werftarbeiter in den Backsteinterrassen im protestantischen Quartier, das im Osten Belfasts gelegen ist. Steht man heute am Ende der Strasse und blickt auf das glänzende Gebäude hinunter, das dem «Titanic Quartier» den Namen verliehen hat, wirkt es wie eine seltsame Kuriosität. John Keenan, der im Arbeiterquartier seinen «Union Jack Shop» führt und sein Schaufenster mit einigen Titanic-Souvenirs wie Teekannen dekoriert hat, spürt noch nichts vom Boom. «Ich verkaufe etwas mehr als sonst», sagt er, «aber wirklich Geld mache ich nicht.» Er kritisiert, dass die Quartierbevölkerung nicht miteinbezogen worden sei. «In diesem Stadtteil findet sich in jeder Familie ein Ahne, der in den Werften arbeitete. Die Touristenbusse fahren zwar hier durch, sie verlangsamen aber nur, die Fotoapparate fokussieren unsere Mauern, es klickt einige Male, ehe die Busse wieder beschleunigen. Wie soll die lokale Bevölkerung davon profitieren?»

Susie Millar, die den Gedenktag an Bord eines Schiffes, auf Höhe des Wracks, verbringen wird, sieht es positiver: Allein schon das globale Interesse an Belfast, das durch die Titanic und das Museum geweckt worden ist, sei zu begrüssen. «Wir haben dem Tauchteam, das das Wrack gefunden hat, zu danken, ebenso dem Filmteam um James Cameron. Ihre Erfolge machten uns bewusst, wie gross das Interesse an der Titanic ist – und dass wir hier in Belfast im Grunde eine grossartige Geschichte zu erzählen haben!»

© «Guardian News & Media Ltd 2012»;
Übersetzung: Marc Krebs

In der nordirischen Hauptstadt, wo die Titanic vor 100 Jahren zu Wasser gelassen wurde, locken dieser Tage zahlreiche Attraktionen Besucher aus aller Welt an.

Wem das zu weit weg ist: Auch im Schwarzbubenland wird der Titanic gedacht: Das Musikautomatenmuseum erinnert mit einem Konzert auf der Britannic-Orgel (15. April, 19.30 Uhr) und mit einer Sonderausstellung an das damalige Lebensgefühl.

Just zum Gedenktag erlebt auch James Camerons «Titanic» ein ­Revival. Er hat den Filmerfolg nach 15 Jahren digital aufgerüstet: Leonardo DiCaprio, Kate Winslet, das Schiff und der Eisberg sind jetzt dreidimensional in den Kinos zu erleben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12

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