«Einsatzbereiter» Nazi oder «dummer Schnuri»?

Karl Lipp wurde Ende des Zweiten Weltkriegs beschuldigt, ein verkappter Nationalsozialist zu sein. Die Ausstellung Magnet Basel arbeitet die Geschichte seines Landesverweises auf.

«Man hat mich auf die Strasse gestellt wie einen Hund, ohne Mittel und Wege.» Maria und Karl Lipp. (Bild: Staatsarchiv Basel-Stadt)

Karl Lipp wurde am 30. Oktober 1901 als deutscher Staatsangehöriger in Basel geboren. Wie seine drei Schwestern wuchs Lipp in Basel auf, besuchte hier die Schulen und absolvierte eine kaufmännische Lehre. 1924 erhielt er die Niederlassung; eine Einbürgerung strebte er offenbar nie an.

1926 heiratete er Maria Hagen, die seit 1916 in der Schweiz lebte und im Bahnhofbuffet Muttenz arbeitete. Im selben Jahr trat Lipp eine Stelle bei der Ciba AG an, wo er sich zum Lademeister emporarbeitete. Bei seinen Arbeitskollegen galt er als Nazi.

Nach dem Ende Nazi-Deutschlands veröffentlichte der Basler Regierungsrat Anfang Juni 1945 eine Liste von 178 Personen, die «wegen Missbrauch des Gastrechts» auf unbestimmte Zeit aus dem Gebiet der Schweiz weggewiesen wurden. Lipps Name war nicht darunter. Das war einem Arbeitskollegen mit Namen Ratgeb nicht entgangen.

In einem Brief machte er die Politische Abteilung (PA) des Basler Polizeidepartements auf Lipp aufmerksam: «Ich habe diesen Namen heraus gegriffen, weil er zu bestätigen scheint, dass evtl. der Eine oder Andere der ‹dicken Nazi› vergessen werden könnte.» Lipp sei «Ortsgruppenleiter oder so was Aehnliches» gewesen und habe «wiederholt Drohungen gegen Schweizer ausgestossen und Ihnen versichert, dass ‹für sie gesorgt sei›.»

Kein Unbekannter

Die Politische Abteilung (PA) ging dem Hinweis unverzüglich nach. Dabei stellte man in den Unterlagen fest, dass Karl Lipp bereits früher Ziel von Ermittlungen war. Aufmerksam geworden war man auf ihn im November 1941, als er an einer Zusammenkunft von Leitern der Deutschen Arbeitsfront (DAF) teilnahm. 1942 sei er «für besondere Werbetätigkeit im Kreise seiner Arbeitskameraden» zugunsten der DAF «ausgezeichnet» und «als Blockwalter bestimmt» worden.

Zudem habe Lipp «als fanatischer Nazi» und Mitglied des Deutschen Turn- und Sportvereins (DTSV) «an vielen Übungen» teilgenommen». Und: «Seine Gattin ist nicht viel besser, sie war Mitglied der Auslandsdeutschen Frauenschaft und der DAF seit 1941.» Den beiden habe allerdings «eine verbotene Tätigkeit damals nicht nachgewiesen werden» können.

«Jetzt kommen alle dran, einer nach dem anderen, dafür ist gesorgt», soll Lipp seinen Arbeitskollegen gedroht haben.

Abschliessend heisst es: «Lipp und seine Frau waren bis vor kurzem militante Nazis und dürften im Rahmen der allgemeinen Säuberung wohl vergessen geblieben sein.»

Zu dieser Einschätzung kam man bei der PA insbesondere aufgrund der bei Arbeitskollegen und Nachbarn durchgeführten Erhebungen. Besonders negativ ins Gewicht gefallen sein dürften die Aussagen von Arbeitskollege Ratgeb. Dieser erzählte dem untersuchenden Beamten, nach dem Einmarsch der Nazis im neutralen Norwegen im April 1940 habe Lipp im Büro «freudestrahlend» gesagt: «‹So jetzt kommt die Sache in’s Rollen, jetzt kommen alle dran, einer nach dem anderen, auch ihr werdet dran kommen, dafür ist gesorgt.› Als wir Stellung zu seinen Aeusserungen nahmen, wurde er frech und drohte uns an massgebender Stelle wegen Deutschfeindlichkeit zu verklagen. Einige Tage später sagte er zu mir und einem gewissen Ammann, der ebenfalls in der Ciba arbeitet, ‹so speziell für Euch habe ich gesorgt, ihr werdet die deutsche Grenze niemals mehr lebend überschreiten.›»

Diese Aussagen Ratgebs wurden von Ammann «vollinhaltlich» bestätigt.

Mit deutschem Gruss

Nicht nur seine Arbeitskollegen sahen in Lipp einen «in politischer Hinsicht fanatischen Deutschen». Eine befragte Nachbarin sagte, Lipp sei «für alles, was den Nationalsozialismus anging, äusserst begeistert» gewesen. «Hier im Haus konnte man täglich den deutschen Sender, den er fast ununterbrochen laufen liess, hören. Auch gab es Zeiten wo er seine Gesinnungsgenossen öffentlich mit dem deutschen Gruss begrüsste. Jetzt allerdings will er plötzlich nichts mehr davon wissen. (…) Es wäre m. E. höchste Zeit, dass man ihn mit samt seiner Frau an die deutsche Grenze stellt, wo er schon längst hingehört.»

Da Lipp in Davos weilte, um eine Brustfellentzündung auszukurieren, ruhte die Sache zunächst. Nach seiner Rückkehr Mitte September konfrontierte ihn die PA mit den verschiedenen Vorwürfen. Lipp räumte ein, dass er und seine Frau Mitglieder bei verschiedenen deutschen Organisationen gewesen seien und dass er als DAF-Blockwalter fungiert und die Monatsbeiträge der DAF-Mitglieder an der Klingenthal- und Clarastrasse eingezogen habe.

Am 29. September 1945 verfügte das Polizeidepartement Basel-Stadt die Ausweisung Karl Lipps und seiner Ehefrau.

Ganz entschieden bestritt Lipp indes, Drohungen gegen Arbeitskollegen ausgestossen oder Ratgeb und Ammann wegen «Deutschfeindlichkeit gemeldet» zu haben.

Der Beamte, der die Einvernahme vorgenommen hatte, schenkte Lipps Beteuerungen keinen Glauben: «M. E. handelt es sich bei Lipp um einen dubiosen, unzuverlässigen Ausländer und ehemaliges Mitglied der fünften Kolonne, der im Rahmen der allgemeinen Säuberung ebenfalls erfasst werden sollte.»

Entsprechend verfügte das Polizeidepartement des Kantons Basel-Stadt am 29. September 1945 die Ausweisung Karl Lipps und seiner Ehefrau.

Kein NSDAP-Mitglied

Gegen die Verfügung reichten die Lipps ein Wiedererwägungsgesuch ein. Darin wurden «die schweren Vorwürfe (…) energisch» zurückgewiesen. Auch habe sich der Petent Lipp «trotz wiederholtem Drängen und trotz verschiedener Drohungen» nicht als Mitglied der NSDAP einschreiben lassen. Im Übrigen seien die Ehegatten Lipp «dermassen assimiliert, dass viele ihrer Bekannten gar nicht wissen, dass sie deutsche Reichsangehörige sind». Und zudem: «Die Ehegatten Lipp fühlen sich in jeder Beziehung als Basler und Schweizer.»

Der Regierungsrat wies den Rekurs am 4. Dezember 1945 als unbegründet ab. Darauf gelangten die Lipps ans Eidgenössische Polizei- und Justizdepartement in Bern. Da ihr Rekurs aufschiebende Wirkung hatte, wurden die Eheleute am 2. Januar 1946 bis zum endgültigen Entscheid interniert, Maria Lipp in der «Alten Mühle» in Magden (AG) und Karl Lipp in der Arbeiterkolonie Dietisberg bei Läufelfingen (BL).

Lipp soll einen sehr scharfen, auf den Mann trainierten Polizeihund besessen haben: «Da muss man aufpassen.»

Kurz vor der Internierung des Ehepaars Lipp ging am 28. Dezember bei der PA in Basel der Brief einer Frau ein, die als Untermieterin bei den beiden wohnte. Mit ihrem Schreiben will die Frau die in das Ausweisungsverfahren involvierten Beamten warnen.

Karl und Maria Lipp hätten sich «wiederholt ausgelassen, dass sie sich die Gesichter jedes einzelnen Polizei-Bonzen gut gemerkt hätten und wenn jemals die Grenze später offen wäre, und einer von denen, die mit ihrer Sache zu tun gehabt hätten, auf die deutsche Seite käme, Lipp oder andere mit ihnen abrechnen würden und keiner mehr in die Schweiz zurückkäme. Ebenso hätte er schon mit den zwei Schweizern bei der Ciba, die ihn angeklagt hätten, abgerechnet, wenn er nicht Angst hätte, der Verdacht wäre sofort auf ihn gefallen. Sie liessen sich das Verfahren nicht gefallen und die Tat an ihnen müsse gesühnt werden früher oder später.»

Ferner gab die Frau zu bedenken, dass die Lipps «einen sehr scharfen, auf den Mann dressierten Polizeihund» besässen: «Da muss man aufpassen.»

Der Bundesrat lehnt den Rekurs ab

Am 4. Februar 1946 lehnte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement den Rekurs ebenfalls ab. In der Begründung heisst es, als DAF-Blockwalter habe Lipp ein Amt bekleidet, «das erfahrungsgemäss nur einem überzeugten Nationalsozialisten anvertraut wurde. Seine drohenden und defaitistischen Aeusserungen sind als Aktivitäten im nationalsozialistischen Sinne zu bewerten. Dies kennzeichnet Lipp als einsatzbereiten Nationalsozialisten.»

Karl Lipp hatte am 20. Februar, seine Frau Maria am 28. Februar 1946 nach Deutschland auszureisen.

«Die Ausreise wird über Riehen–Stetten erfolgen.» – «Marschbefehl» für Karl Lipp.

Lipp fand sich mit seinem Landesverweis nicht ab und versuchte von Deutschland aus eine Aufhebung zu erreichen. In einem Brief vom 15. Januar 1954 schreibt er: «Man hat mich auf die Strasse gestellt wie einen Hund, ohne Mittel und Wege (…) und das allerschlimmste, im frostigen Winter über die Grenze in ein Chaos, das jeder Menschenwürdigkeit Hohn spricht. (…) Durch unglückliches Wohnen, kein dichtes Dach über dem Kopf, seelisch zugrunde gerichtet, Erkältung und schwere Krankheit musste meine gute, unvergessliche Frau ihr Leben lassen, und das nur weil zwei lichtscheue Gesellen (…) mir in egoistischer Weise einen Streich spielten.»

Trotz bestehendem Landesverweis reiste Karl Lipp wiederholt illegal in die Schweiz und wurde dafür gebüsst.

Als sein Gesuch abgelehnt wurde, schrieb er am 20. Mai 1954 aufgebracht an das Polizeidepartement Basel-Stadt: «Diese Absage ist (…) eine unerhörte Ungerechtigkeit, nur zu verdanken diesen zwei lichtscheuen Verleumdern, die nicht die Courage besitzen, einmal einen Spaziergang nach Deutschland zu unternehmen (…) ohnehin würde ich diesen Schmutzfinken einen überaus glorreichen Empfang bereiten.»

Gerne würde Lipp auch bei einem ehemaligen Arbeitskollegen vorbeischauen, der ihm angeblich noch Geld schuldet, doch auch dem steht der Landesverweis entgegen: «Bezüglich meines Guthabens (…) geben Sie mir also keine Möglichkeit, mit dieser Persönlichkeit abzurechnen.»

Trotz bestehendem Landesverweis reiste Karl Lipp wiederholt illegal in die Schweiz, dies wohl auch, weil seine drei Schwestern in der Nähe von Basel lebten. Dabei wurde er im Jahr 1956 und 1963 von der Polizei angehalten und gebüsst. Sein Landesverweis wurde offenbar nie aufgehoben.

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