Vor 40 Jahren eröffnete Anne-Marie Pfister ihre Buchhhandlung am Petersgraben und damit einen Ausgangspunkt der feministische Bewegung der 70er-Jahre. Über die Jahre haben sich die Themen geändert, jedoch nicht ihre Rolle als Brückenbauerin.
Als Anne-Marie Pfister 1974 ihre Buchhandlung eröffnete, war das Frauenstimmrecht gerade drei Jahre alt und der Gleichstellungsartikel von Mann und Frau noch in weiter Ferne. Den Laden aufzumachen war «wie einen schlafenden Hund zu wecken», sagt sie. In den folgenden Jahren wurde die Buchhandlung ein Aus- und Durchgangspunkt der Frauenbewegung, für Basel und darüber hinaus.
Betritt man heute den Laden, merkt man nicht mehr viel davon, auch wenn sich Anne-Marie Pfister nach wie vor als Buchhändlerin mit politischen und gesellschaftlichen Anliegen versteht. Die politischen Botschaften der 1970er-Jahre funktionieren nicht mehr, und gerade dass sie hier nicht aufgewärmt werden, macht den Laden interessant. Pfisters Arbeit ist indessen die gleiche geblieben: Leser mit Faible für Austausch werden im Haus am Petersgraben 18, in dem schon Michel de Montaigne zu Besuch war, an Geschichten herangeführt, die sie weiterbringen.
Frau Pfister, Sie machen Ihre Arbeit seit 40 Jahren. Was davon können Sie nicht mehr sehen?
Nichts.
Ihr Ernst?
Ja. Manche Bücher möchte ich nicht mehr sehen. Aber im Wegwerfen bin ich gut. Also eigentlich arbeite ich natürlich nicht gerne, wenn Sie so wollen. Ich bin faul, ich möchte oft lieber im Bett liegen oder im Rhein schwimmen.
Wollten Sie schon immer Buchhändlerin werden?
Ja. Ich habe mit 17 Jahren die Ausbildung begonnen. Am ersten Tag nach dem Abschluss bin ich per Autostopp nach Italien gefahren, nach einer Weile wieder zurück, und dann wieder los. In dieser Zeit konnte man für zwei, drei Monate zum Schaffen in die Schweiz kommen und davon ein Jahr im Ausland leben. Dann ging ich für zwei Jahre nach Paris und habe dort gemacht, was man dort so macht: ein Französischdiplom an der Sorbonne, Kinderhüten und später war ich Schwimmlehrerin in Cannes.
So kamen Sie auch nach Basel?
Genau. Von Paris aus wollte ich für drei Monate nach Basel, um Geld zu verdienen. Ich habe in einem Buchladen gearbeitet, neben dem Kino Camera im Kleinbasel, den es schon lange nicht mehr gibt. Dann habe ich mich verliebt und bin hängen geblieben. Dieser Freund hat mir dann ab 1974 geholfen, diese Buchhandlung hier aufzuziehen.
Sie sind nach Ihrer Ausbildung ordentlich herumgekommen. Wird Ausbildung heutzutage überschätzt?
Nein. Ich profitiere von meiner bis heute. Was das Studieren anbelangt: Eine Zeit lang glaubte man, mit einem Studium stünden einem alle Türen offen. Das stimmt nicht mehr. Marcel Ospel zum Beispiel, der ehemalige Chef von der UBS, der hat nicht studiert, der hat am Schalter angefangen und eine Lehre gemacht. Der ist weit gekommen, bis er die Bank ins Desaster gefahren hat.
Vielleicht hätter er doch studieren sollen.
(lacht). Eine Zeit lang ging es ja gut. Für ihn jedenfalls.
Es gibt einen Trend, im Zweifelsfalle noch etwas zu studieren. Auch junge Schriftsteller lassen sich häufig ausbilden.
Das finde ich sehr fragwürdig. Allgemein finde ich es sinnvoll, wenn eine akademische Weiterbildung aus einer Entwicklung heraus erfolgt. Für mich kam ein Studium gar nicht in Frage. Als ich 1965 in Langnau im Emmental die Sekundarschule abgeschlossen habe, sind von 95 Schülern drei ins Gymnasium gegangen. Das waren die Söhne vom Doktor, vom Tigerkäse-Fabrikanten und vom Zahnarzt. Die anderen haben eine Lehre gemacht. Wir waren vier Kinder und mein Vater war Dorfschullehrer – das hätte nicht gelangt. Meine zwei jüngeren Brüder, die haben studiert.
Wurden Sie als einzige Tochter benachteiligt?
Nein. Ich war die Königin, die dynamischste. Meine Brüder haben mich bewundert. Als sie Gymnasiasten waren, besuchten sie mich in Paris. Mein Vater war kein Patriarch, sondern ganz ein feiner, weiblicher Mensch. Die Rollen waren zu dieser Zeit natürlich klar verteilt, meine Mutter hat keinen Beruf gelernt, sondern war Frau Dorfschullehrer.
Sie sagten, es gebe heute weniger plakativ Politische. Wo sind sie hin?
Das ist eine Erfahrung, wenn man älter wird: Recht haben nützt nichts. Es ist etwas einsames. Man muss etwas unternehmen oder mit seinem schlechten Gewissen fertigwerden. Es reicht heute nicht mehr, informiert zu sein und ein paar Überzeugungen zu teilen, um eine politische Botschaft zu haben.
Woran liegt das?
An der Vielfalt der Informationen. Früher konnte man sich nur an bestimmten Stellen informieren, man hat vielleicht das «Konkret» gekauft, den «Spiegel», oder die «Arbeiterzeitung», die gab es damals in Basel noch. Da fand man klare Statements, an die man seine Sympathien geben konnte. Das geht ja inzwischen nicht mal mehr mit der TagesWoche. Viele Leute – ich allerdings nicht – haben die Erwartung, dass sie eine Alternative wäre zur BaZ. Das kann man vielleicht über die WoZ sagen. Information ist heute allgemeiner geworden, globaler. Man kann auf alles von überall her zugreifen, eine Neuigkeit jagt die andere. Der Syrienkrieg wird durch den im Irak schon wieder überschattet. Früher konnte man eine Haltung gegenüber dem Vietnamkrieg über zehn Jahre aufbauen. Der Wert des Wissens hat sich verändert.
Ihre Arbeit besteht darin, Geschichten und Wissen auszuwählen und bereitzustellen. Hat sich diese Rolle ebenfalls verändert?
Der Inhalt schon, die Rolle nicht. Ich kann alles bestellen, doch meine Auswahl an Büchern, die ich bereit habe, ist klein. Weil die Menge an Informationen zunimmt, ist die Struktur der Auswahl besonders wichtig. Dadurch überlebe ich.
Ein Nicht-Leser weiss nicht, was er verpasst.
Wie wählen Sie aus?
Ich biete nicht nur meine persönliche Auswahl, das wäre nicht interessant. Ich muss einen Weg schaffen, dass der Kunde ein Buch aus dieser Auswahl überhaupt wahrnimmt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass jemand, der Heinrich Böll liest, vielleicht auch Irmtraud Morgner kauft. Ich baue Stufen von Büchern, die allgemeiner bekannt sind, zu solchen, die ich ausserdem für wichtig halte.
Was haben eigentlich Leser Nicht-Lesern voraus?
(denkt nach) Ein Nicht-Leser weiss nicht, was er verpasst.
Nämlich?
(lacht) Lesen ist eine Begleitung in allen Lebenslagen. Rückzugsort, Information, ein Sich-zu-Hause-Fühlen, Ärgernis, Glück, Stille, Identifikation.
Alles Dinge, die man auch woanders finden kann.
Lesen ist kontemplativ. Es umfasst sehr viel, vieles in einem einzigen Text. Doch Ihre Frage ist schwer zu beantworten, da ich nicht weiss, wie es ist, nicht zu lesen. Ich wüsste nicht, was ich sonst mit meiner Freizeit anfinge. Bungee-Jumping vielleicht. Oder Falschirmspringen. (lacht) Nein, aber Lesen ist ein Teil des Lebens.
Ihr Beruf setzt Kritik voraus. Warum äussern Sie sich nicht öffentlich?
Ich war Grossrätin, als Parteilose. Das war sehr interessant. Doch ich kann nicht selbstständig arbeiten und gleichzeitig Politik machen. Der Laden ist auf meine Person hin aufgebaut, ich muss präsent sein. Auch an der Gründung des Basler Literaturhauses habe ich sehr gern mitgearbeitet, und in der Programmkommission der Solothurner Literaturtage. Aber selber schreiben? Nein. Ich schreibe viele Briefe, und ich erzähle gern, unterhalte Leute. Ich brauche das Gespräch.
Mögen Sie die Basler?
Ja, ich glaube schon. Weil sie schnell sind, schneller als die Berner.
Das uralte Klischee?
Ja. Bern ist meine Heimat, aber ich könnte nicht mehr dort leben.