«Erst kommt der Stress, dann die Panikattacke»

Jeder zehnte Mensch entwickelt im Lauf seines Lebens eine Angststörung. Die erste Panikattacke fühlt sich an wie ein Herzinfarkt. Los wird die Angst nur, wer realisiert, dass seine Psyche krank ist, sagt Psychologin Pamela Loosli. Doch dann lassen sich Panikattacken gut behandeln.

(Bild: Nils Fisch)

Jeder zehnte Mensch entwickelt im Lauf seines Lebens eine Angststörung. Die erste Panikattacke fühlt sich an wie ein Herzinfarkt. Los wird die Angst nur, wer realisiert, dass seine Psyche krank ist, sagt Psychologin Pamela Loosli. Doch dann lassen sich Panikattacken gut behandeln.

Pamela Loosli, jeder Zehnte erleidet früher oder später eine Angststörung. Ist es heutzutage normal, Panik zu haben? 

Angst gehört zum Menschen, sie hat eine Warnfunktion, die uns dabei hilft, uns vor Gefahren zu schützen, etwa beim Überqueren der Strasse. Nur: Wenn wir Angst haben vor Situationen, die nicht gefährlich sind, beispielsweise dem Liftfahren oder dem Kino, dann verliert sie ihre Warnfunktion. Und Menschen mit solchen Ängsten gelten oft als Versager. 

Angststörungen 
Patienten mit Angststörungen kriegen aus heiterem Himmel grosse Ängste und Panikattacken mit Brustschmerzen, Zittern und Atemnot. Je länger man mit der Behandlung wartet, desto stärker werden die Ängste.
Die psychische Krankheit ist verbreitet: Eine von zehn Personen entwickelt im Leben eine Angststörung, wie eine Übersichtsstudie der Universität Wien zeigt. 

Trotzdem gibt es bekannte Persönlichkeiten, die zu ihren Panikattacken stehen, etwa die Sissacher Sängerin Ira May oder die Schweizer Journalistin Silvia Aeschbach. Und in der amerikanischen Serie «Suits» leidet der «erfolgreichste und teuerste Firmenanwalt New Yorks» darunter.

Es scheint im Trend zu sein, dass Prominente öffentlich zu ihrer psychischen Erkrankung stehen, zum Beispiel auch zu Depressionen und Burn-outs. 

Finden Sie das nicht gut?

Ich finde es immer gut, wenn man Berichte von Betroffenen lesen kann. Das hilft, psychische Krankheiten zu enttabuisieren. Denn häufig hört man ja, dass Menschen mit psychischen Leiden Spinner seien, die in eine Klinik gehören. 

Ich habe auch mit Betroffenen geredet. Sie erzählten, dass sie vor den Ferien Angst kriegen. Sind Reisen etwas Furchterregendes?

Es gibt Situationen, die Angstpatienten typischerweise fürchten, beispielsweise beengende Räume, in denen man eingeschlossen ist und aus denen man nicht weg kann, wie im Flugzeug, im Lift oder im Kino. Oder grosse Menschenmassen.

Weshalb löst das so grosse Angst aus? 

Meistens ist anhaltender Stress der Grund. Jeder hat hin und wieder Stress, und der Mensch hat Strategien, um ihn wieder abzubauen. Aber es gibt eben eine Schwelle, und wenn man die überschreitet, kann es sein, dass man die Kontrolle verliert und es zu einer ersten Panikattacke kommt. 

«Man ist auf dem Heimweg im Auto, und plötzlich schmerzt die Brust, man kriegt keine Luft mehr, schwitzt und zittert und fühlt sich ohnmächtig.»

Wenn man etwa den Partner oder den Job verliert?

Oft kann eine Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen bringen – etwa eine Autofahrt nach Arbeitsschluss, wenn plötzlich die Brust schmerzt, man keine Luft mehr kriegt, schwitzt und zittert und sich ein Ohnmachtsgefühl breitmacht.

Deshalb denken viele, sie hätten einen Herzinfarkt.

Genau. Und nachher fürchten sie, dass das wieder passieren und sie dabei sterben könnten. Und dann beginnt das Vermeidungsverhalten.




Pamela Loosli erklärt das Diathese-Stress-Modell, ein komplizierter Begriff für eine einleuchtende Erklärung: Wenn man lange Zeit Stress hat, gehen dem Körper die Reserven aus, um ihn abzubauen, bis es «peng» macht. (Bild: Nils Fisch)

Der Patient vermeidet Situationen, in denen er Angst bekommen könnte?

Ja, dabei sind diese Situationen eigentlich gar nicht ausschlaggebend. Aber nach einer Attacke im Auto verbindet der Betroffene die Angstsymptome mit dem Fahren – und vermeidet es, sich wieder ans Steuer zu setzen. Wenn er dann beim Einkaufen eine zweite Attacke erlebt, wird auch diese Situation zukünftig vermieden. Das kann so weit führen, dass sich der Patient nicht mehr aus dem Haus traut.

Das heisst, Angstpatienten merken gar nicht, dass Stress ihr Leiden auslöst?

Ja, die meisten denken, es stimme körperlich etwas nicht. Also gehen sie zum Arzt und der findet nichts. Bis die Diagnose einer Panikstörung gestellt wird, kann der Patient unter Umständen eine richtige Odyssee von Arzt zu Arzt durchmachen.  

«Es gibt Männer, die alles für den Job geben und sich nicht eingestehen, dass sie sich gestresst fühlen. Das ist eine Art von Verdrängen.»

Das verstehe ich nicht ganz: Wie kann man solchen Stress haben, ohne den Stress zu fühlen?

Es gibt halt Leute, die mit dem Kopf durch die Wand wollen. Ich will jetzt keine Genderdiskussion anfangen, aber es gibt Männer, die sich gewohnt sind, alles für den Job zu geben und sich nicht eingestehen, dass sie sich gestresst fühlen. Das ist eine Art von Verdrängen. Wenn man ihnen dann aufzeigt, dass ihre Arbeitsbelastung gross ist, ein Problem in der Familie besteht, dann ein Streit mit der Frau dazukommt, und anschliessend der Job in Gefahr ist – erst dann realisieren sie, wie gestresst sie eigentlich sind.

Gibt es denn Leute, die schwächere Nerven haben und Stress schlechter vertragen als andere?

Das kann man so nicht sagen. Es gibt einfach Menschen, die mit Stress oder Belastungssituationen besser oder schlechter umgehen können. Entscheidend ist, was man für ein soziales Umfeld hat, ob sich jemand bei seinen Freunden Hilfe holen kann. Aber auch, ob jemand Hobbys hat, bei denen man sich entspannen kann.

Wovon hängt das ab – von der Kindheit und den Genen?

Das weiss man nicht so genau. Was man weiss: Erwachsene, die in der Kindheit an Trennungsangst litten, entwickeln tendenziell häufiger Angststörungen. 

Das sind Kinder, die sich kaum von ihren Eltern lösen können.

Ja, beispielsweise Kinder, die Panik haben, wenn sie in den Kindergarten kommen und sich am Mami festklammern. Oft werden diese Kinder später zu Heimwehkindern, die es im Schullager fast nicht aushalten.

Woher kommen diese Trennungsängste?

Es gibt verschiedene Ursachen. Wenn ein Kind eine längere Abwesenheit eines Elternteils wegen Krankheit erlebt, kann dies sehr verunsichern und Trennungsängste begünstigen. 

Kann das auch bei Scheidungen passieren?

Ja, klar, solche Einschnitte im Leben bedeuten für Kinder und Erwachsene massiven Stress. Kinder, die stabile Beziehungen kennen und wissen, wo sie hingehören, können besser mit schwierigen Situationen umgehen, möglicherweise auch später als Erwachsene. 

«Extremsport hilft gegen Stress. Das vegetative Nervensystem wird so stark erregt, dass sich der Körper danach automatisch entspannt.»

Eltern mit Angststörungen haben häufig Angst um ihre Kinder. Wie ist das für die Kinder?

Häufig ist es so, dass Mütter oder Väter mit Angststörungen ihre Kinder sehr behütet und ängstlich erziehen. Die Kinder orientieren sich am Verhalten ihrer Eltern und übernehmen dieses auch oft.  

Das klingt jetzt sehr psychoanalytisch. Kann man auch von Geburt an, sozusagen biologisch, auf einem höheren Stresslevel sein?

Ja, bei einigen Menschen wird das vegetative Nervensystem schneller aktiviert als bei anderen: Der Körper schüttet Stresshormone wie Adrenalin aus, der Herzschlag geht schneller – und der Mensch fühlt sich gestresst. 

Und dann kriegt man eine Angststörung?

Nein. Es gibt Leute, die sehr gute Strategien haben, um damit umzugehen, zum Beispiel, indem sie Extremsportarten wie Fallschirmspringen ausüben und so Stress abbauen.

Wie bitte, Extremsport entspannt?

Ja. Und auch Ausdauersport. Das gibt einen Kick, der das Nervensystem stark erregt. Wenn das Maximum erreicht ist, baut das Nervensystem die Stresshormone automatisch wieder ab und entspannt den Körper. 

Wenn man bis zum Maximum an Stress geht, folgt automatisch die Entspannung?

Genau, irgendwann kann der Körper gar nicht anders als runterzufahren, weil er keine Energie mehr hat oder weil der Kick abflaut. Damit spielen die Extremsportler. Und es ist das Erste, was Panikpatienten bei uns lernen. Sie haben oft das Gefühl, die Panik könne sich immer weiter steigern. Deshalb haben sie solche Angst vor der Angst. Wenn sie aber einmal am eigenen Leib erfahren, dass die Angst wieder abflaut, dann beruhigt das. 

Also schickt man Panikpatienten zum Fallschirmspringen?

Nein, am wichtigsten ist es, ihnen zu sagen, was körperlich genau abläuft, wenn eine Attacke kommt. Das nimmt dem Schreckgespenst seine Dramatik. Wir konfrontieren die Patienten mit speziellen Situationen. Wenn jemand Angst vor dem Liftfahren hat, gehen wir Lift fahren – bis eine Entspannung eintritt.  

Das heisst, die Patienten lernen, die Attacken auszuhalten?

Ja, aber das Ziel ist, dass im Idealfall gar keine Attacken mehr auftreten. 

Haben Sie Erfolg damit?

Ja, man kann Panikattacken sehr gut behandeln. Je früher die Patienten kommen, desto besser. Vielleicht werden sie nie ganz angstfrei und haben in schwierigen Lebenssituationen auch immer wieder mal Panikattacken, aber sie entwickeln einen besseren Umgang mit der Angst. Oft bringt das grosse Linderung. Die meisten meiner Patienten haben einen Job und meistern ihren Alltag trotz der Angststörung.

«Wenn der Chef erwartet, dass man abends, am Wochenende und in den Ferien immer die Mails checkt, triggert das den Stress.»

Mit demselben stressigen Alltag wie vorher?

Die Patienten müssen ihr Leben schon auf den Kopf stellen. In der Gruppentherapie schauen wir als Erstes die Agenda genau an: Wie setze ich meine Termine, habe ich Zeit für mich, in der ich Sport treiben, ein Buch lesen oder in der Natur spazieren kann? Es ist wichtig, sich pro Tag eine halbe Stunde für sich Zeit zu nehmen, um einen Ausgleich zu finden.  

Entspannung auf Knopfdruck, das ist verzwickt.

Wir üben mit den Patienten die progressive Muskelentspannung. Wenn man diese Technik jeden Tag anwendet, sinkt der Grundlevel der Anspannung. So schafft man einen Puffer gegen Stress und ist weniger anfällig für Panikattacken.

Irgendwie scheint der Stress in unserer Gesellschaft fast schon zum normalen Alltag zu gehören.

Ein wichtiger Punkt ist die elektronische Erreichbarkeit per Handy und Computer. Dieses ständige Vernetztsein triggert unseren Stress natürlich schon. Umso mehr, wenn der Chef erwartet, dass wir auch am Wochenende und in den Ferien unsere Mails checken und immer sofort antworten. Aber wir sehen erst in ein paar Jahren, wie sich das auf die psychische Gesundheit auswirkt.

Man hat auch bei der Erfindung des Buchdrucks oder des Fernsehens gesagt, die Welt gehe jetzt unter – doch sie rotiert noch. 

Ich glaube nicht, dass sie untergeht, Gott sei Dank sind wir anpassungsfähig.

Zur Person
Die Psychologin Pamela Loosli (37) leitet seit zehn Jahren Gruppentherapien zur Angstbewältigung am Universitätsspital Basel und betreut Angstpatienten in Einzeltherapie.

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Die TagesWoche widmet sich dem Schwerpunktthema Angststörungen und Panikattacken. Wir haben auch mit Betroffenen geredet und sie gefragt, wie es ist, mit der Angst zu leben. Beatrice hatte ihre erste Panikattacke während einer Magendarmgrippe vor den Ferien. Zu ihrem Bericht. Laura hatte solche Angst, dass sie ihre Kinder nicht mehr schlitteln oder Velo fahren liess. Zu ihrem Bericht.

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