Es reicht gerade fürs Nötigste

Am 17. Oktober ist Welttag gegen die Armut. In der Schweiz, im Land mit der dritthöchsten Millionärsdichte der Welt, lebt jede 13. Person unterhalb des Existenzminimums. Dazwischen gibt es viele, die nah an der Grenze zur Armut leben. Besonders oft sind es Alleinerziehende.

Ein grosses Anliegen von Michaela M. (42, Mitte) ist, dass ihre Kinder (12 und 14) nicht als Aussenseiter aufwachsen. (Bild: Danish Siddiqui)

In der Schweiz, im Land mit der dritthöchsten Millionärsdichte der Welt, lebt jede 13. Person unterhalb des Existenzminimums. Dazwischen gibt es viele, die nah an der Grenze zur Armut leben. Besonders oft sind es Alleinerziehende.

Auf Rosen gebettet war die Familie M. schon früher nicht, als der Vater noch dabei war. Als Magaziner hatte der Mann einen bescheidenen Lohn. Aber zusammen mit dem, was seine Frau Michaela als Kleinkindererzieherin mit einem 60-Prozent-Pensum verdiente, kam die vierköpfige Familie einigermassen über die Runden.

Doch als die Kinder fünf und drei Jahre alt waren, eröffnete er Michaela, dass er jetzt eine andere habe und ausziehe. «Von heute auf morgen war er weg, liess mich einfach allein mit den Kindern sitzen», sagt sie. Das ist jetzt neun Jahre her, neun harte Jahre für Michaela und ihre Kinder.

Ihr spärlicher Lohn – rund 3000 Franken pro Monat – reichte hinten und vorn nicht. Um die Alimente für die Kinder, zu denen ihr Ex-Mann verpflichtet worden ist, habe sie ständig bangen müssen. Einige Male seien sie mit Verspätung eingetroffen. Ja, Zuverlässigkeit sei nicht gerade eine Stärke ihres ehemaligen Mannes, sagt Michaela. Auch der Alimentenbetrag wurde immer kleiner, «logisch, denn er hat ja weitere Kinder gezeugt, derzeit ist das zweite unterwegs». Mit Bitterkeit erinnert sich Michaela an einen Kommentar der Scheidungsrichterin, als es um die Bestimmung der Unterhaltspflichten ging: Sie hätte halt vorher überlegen müssen, mit wem sie Kinder auf die Welt stelle.

Die Isolation ist das Schlimmste

Als ob es Michaela an Schuldgefühlen fehlen würde: weil sie keine sogenannt intakte Familie mehr waren, weil sie ihren Kindern immer wieder mal sagen musste, das können wir uns nicht leisten. Ferien zum Beispiel. Die Familie war seit mehreren Jahren nicht mehr in den Ferien. «Das ist vielleicht ein Luxusproblem, aber einfach ist es trotzdem nicht, wenn all die anderen zweimal pro Jahr in die Ferien fahren, und du bleibst immer zu Hause.»

Michaela ist sich bewusst, dass Armut relativ ist. Sie und ihre Kinder mussten nie hungern, sie hatten auch immer ein Dach über dem Kopf. Aber in einer Gesellschaft wie hier, wo das Materielle so wichtig ist, wo es den Anschein macht, dass sich alle alles leisten können, ist es hart, nicht daran teilnehmen zu können. «Die Isolation ist das Schlimmste», sagt Michaela, «ausgehen, in ein Restaurant oder ins Kino, das liegt alles nicht drin.» Und die Hemmschwelle, unter die Leute zu gehen, werde mit den Jahren immer grösser.

Doch Michaela nahm das in Kauf, weil ihre Kinder möglichst wenig von den prekären finanziellen Verhältnissen spüren sollten. Sie wenigstens sollten keine Aussenseiter sein. Nach der Trennung zog Michaela mit ihnen aufs Land, in eine Wohnung im Haus ihrer Eltern. Zum einen, weil es günstiger war als in der Stadt, vor allem aber, um wenigstens die Familie als soziales Netz zu haben.

Angst vor der Armutsspirale

Michaela ist eine Kämpferin. Zum Sozialamt zu gehen, kam für sie nicht infrage. «Dafür war und bin ich zu stolz.» Sie wolle ihren Kindern ein Vorbild sein, ihnen zeigen, «wir können etwas tun». Längerfristig vom mageren Lohn einer Kleinkindererzieherin zu leben, das war ihr klar, lag nicht drin. Sie machte eine sozialpädagogische Weiterbildung und arbeitete danach als Familienbegleiterin.

Doch der Job in Familien, die in schwierigen Verhältnissen leben, ging ihr zu sehr an die Nieren. «Ich hatte ja selber zu kämpfen, war immer wieder am Rand meiner Kräfte.» Der Arzt ­diagnostizierte ein Burn-out und schrieb sie für fünf Wochen krank. Danach stieg sie mit einem kleineren Pensum wieder ein. In dieser Zeit habe sie öfter daran gedacht, zum Amt zu gehen. «Ich dachte, ich schaffe es nicht mehr, hatte aber gleichzeitig furchtbar Angst davor, in diese Armutsspirale zu kommen.» Sie rappelte sich wieder auf.

Eine Chance verdient

Vor zwei Jahren fand sie einen Job in einem Wohnheim für Jugendliche, seither geht es besser. Auch verdient sie mehr, rund 4400 Franken netto im Monat. Das sei zwar super im Vergleich zu früher, doch knapp ist es immer noch mit zwei Kindern, die inzwischen Teenager sind und damit nicht weniger kosten. «Momentan brauchen beide Zahnspangen.»

Aus­serdem ist die Familie umgezogen, in eine 4,5-Zimmer-Wohnung in Magden, die monatlich 2300 Franken kostet. Da bleibt unter dem Strich – nach Abzug der regelmässig anfallenden Kosten – nicht viel mehr zum Leben übrig als zuvor. «Früher», sagt sie, «war ich arm, jetzt muss ich mich ständig nach der Decke strecken.»

Doch diese Wohnung zu erhalten war Michaela wichtig, die Verwaltung wollte sie ihr zunächst nicht geben, sie verdiene zu wenig. Der Besitzer jedoch fand, die Frau habe eine Chance verdient. Und Michaela nutzt sie, Hauptsache, ihre Kinder haben es gut. Dafür gibt sie alles.

Der Ex-Mann von Michaela M. wehrt sich gegen die Darstellung seiner Ex- Frau. Auch Bekannte von ihm meldeten sich auf diesen Artikel und bezeichneten die Schilderung als einseitig und ungerecht. Sie würden M. als liebevollen Vater kennen, der seine Verantwortung seinen Kindern gegenüber sehr wohl wahrnehme.

Zum Tag der Armut, am 17. Oktober, finden auf der ganzen Welt Kundgebungen statt. Auch in Basel, von 16.30 bis 20 Uhr auf dem Claraplatz. Den Flyer zum Anlass finden Sie auf der Rückseite.

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Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12

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