«Es sind die Barrieren im Kopf, die Behinderten das Leben erschweren»

Worunter leiden behinderte Menschen heute am meisten? Und was können wir anderen tun, um Behinderten das Leben zu erleichtern? Ein E-Mail-Dialog mit dem Rollstuhlfahrer Walter Beutler.

Walter Beutler als (fiktionaler) Grossrat: Ins Parlament gelangt der Rollstuhlfahrer nur via Hebebühne – und das ist noch die kleinste Hürde.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Worunter leiden behinderte Menschen heute am meisten? Und was können wir anderen tun, um Behinderten das Leben zu erleichtern? Ein E-Mail-Dialog mit dem Rollstuhlfahrer Walter Beutler.

Walter Beutler, geboren 1956, erkrankte im Alter von vier Jahren an Kinderlähmung und ist seither an den Rollstuhl gebunden. Er ist diplomierter Übersetzer und seit Jahren in der Behindertenhilfe aktiv. Beutler kennt die ausgrenzenden Strukturen der Behindertenhilfe aus eigener Erfahrung, er setzt sich vehement für die Rückkehr von Menschen mit Behinderung ins öffentliche Leben und ihre Teilnahme in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen, Kultur ein. Er will, dass die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche 2014 von der Schweiz ratifiziert wurde, endlich umgesetzt und Realität wird. 

Als politisch denkender und bestens vernetzter Zeitgenosse wäre Beutler eigentlich prädestiniert, als Politiker direkt ins Geschehen einzugreifen und sich für die Ansprüche der rund 25’000 Basler Behinderten im Grossen Rat einzusetzen – auch vor dem Hintergrund, dass das Präsidialdepartement beschlossen hat, die Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung per Ende Jahr ersatzlos zu streichen. Reizen würde ihn das schon, sagt Beutler, «leider aber wohne ich als Baselbieter im falschen Kanton».

In einem Selbstversuch teste er für die TagesWoche aber immerhin die technischen Hürden, die sich einem behinderten Politiker in spe in Basel entgegenstellen. «Das Basler Rathaus ist durchaus bezwingbar», meint er. Dank einiger weniger Hilfestellungen könne man als körperlich Behinderter Grossrat werden. Der Schritt zum Regierungsrat allerdings würde einem durch ein unüberwindbares Podest verwehrt.

In den vergangenen Wochen hat sich zwischen mir und Walter Beutler ein intensiver, lehrreicher und zuweilen auch amüsanter E-Mail-Dialog über die Stellung der Behinderten in unserer Gesellschaft entwickelt.



Schweres Los als Hinterbänkler: Für Rollstühle hat es im Grossratssaal genügend Platz – allerdings nur hinter den historischen Sitzen oder daneben.

Schweres Los als Hinterbänkler: Für Rollstühle hat es im Grossratssaal genügend Platz – allerdings nur hinter den historischen Sitzen oder daneben. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die technischen Hürden und Hindernisse sind das eine, aber mit welchen Vorurteilen und Missverständnissen sind Behinderte wie Sie im Alltag sonst noch konfrontiert?

Am ehesten interessieren mich die Barrieren im Kopf, die für einige Vorurteile und Missverständnisse sorgen. Etwa wenn eine Mutter ihrem Kind erklärt, das fragend auf mich gezeigt hat: «Was ist das?» Die Mutter: «Das ist ein Rollstuhl.» Das ist ein Phänomen, das zwar nachvollziehbar ist und mit dem ich in der Regel auch problemlos klarkomme: Ich als Mensch verschwinde in der öffentlichen Wahrnehmung hinter dem Rollstuhl. Womöglich hat man noch das Gefühl, ich sei irgendwie am Leiden (oder nicht ganz zurechnungsfähig).

Klar, das hat sich in den letzten Jahrzehnten schon deutlich verändert. Aber das Bild des Behinderten, der zwar unsere Unterstützung verdient, aber nicht ganz für voll genommen wird, ist in den Hinterköpfen noch vorhanden. Und das wirkt sich eben zum Beispiel so aus, dass man zwar den Zuschauerraum des Basler Parlaments von Barrieren befreit, nicht aber die Bühne. Oder dass in höheren Positionen in Wirtschaft und Verwaltung recht wenige Behinderte anzutreffen sind. Es sind hauptsächlich die Barrieren im Kopf, die das Leben erschweren – durchaus auch die Barrieren im Kopf der Betroffenen selbst.

Mit Ihrem Bild von den «Barrieren im Kopf», die im Alltag zu Missverständnissen und Vorurteilen führen können, sprechen Sie auch Sozialisationsprozesse an: die Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster durch Verinnerlichung von sozialen Normen. Hier scheint es noch viel Entwicklungspotenzial zu geben. Was braucht es konkret, damit sich der Blick auf Menschen mit einer Behinderung verändert?

Sie liefern mir jetzt eine Steilvorlage, um die Integration – besser: die Inklusion der Behinderten – in allen Lebensbereichen ins Feld zu führen. Der Unterschied zwischen Integration und Inklusion ist einfach zu fassen. Integriert werden muss jemand, der vorher ausgeschlossen worden ist – vom öffentlichen Leben, von der Schule, wovon auch immer. Inklusion bedeutet dagegen, dass eine Person gar nicht erst ausgeschlossen wird, sondern selbstverständlicher Teil der Gesellschaft ist. Eine (Re-)Integration erübrigt sich. In einer inklusiven, ihre Mitglieder einschliessenden Gesellschaft kommt es zum unverkrampften Austausch zwischen Behinderten und «Normalos»; Barrieren können abgebaut werden oder entstehen gar nicht erst, eine «normalisierte» Sozialisation kann stattfinden. Dagegen scheinen die Sensibilisierungsaktionen der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, die nun abgeschafft werden soll, tatsächlich wie ein Tropfen auf den berühmt-berüchtigten heissen Stein.

Die Fahrt zum Rednerpult ist es etwas akrobatisch…

Letztlich müssten in den Institutionen die Betreuer alles dafür tun, dass es sie nicht mehr braucht. Und ist das nicht etwas viel verlangt? Ich habe da auch keine Patentlösung. Ich sehe nur, dass im Behindertenwesen, in dem, was manche vielleicht nicht ganz zu Unrecht «Betreuungsindustrie» nennen, eine schwer durchschaubare Gemengelage von halbbewussten und gänzlich unbewussten – vielleicht teilweise auch voll bewussten – Eigeninteressen besteht, die das Potenzial der Behinderten irgendwie einzäunt und nicht voll zur Geltung kommen lässt. Vielleicht vergleichbar mit der Mutter eines behinderten Kindes, die dieses bis ins hohe Alter aufopfernd betreut. Von aussen völlig nachvollziehbar und vielleicht sogar bewundernswert. Doch von innen betrachtet ist diese Mutter womöglich eine «Gluggere», eine exzessiv behütende Henne, die nicht loslassen kann und dadurch ihr Kind, das längst erwachsen ist, in seiner Entfaltung behindert. Natürlich können auch Väter diese zweifelhafte Rolle übernehmen.



…das Rednerpult kann aber immerhin auf Sitzhöhe heruntergefahren werden.

…das Rednerpult kann aber immerhin auf Sitzhöhe heruntergefahren werden. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Warum tut sich die heutige Gesellschaft noch immer so schwer damit, Inklusion durchzusetzen? Müssen behinderte Menschen Inklusion einfordern? Oder sind dafür die Behindertenverbände dafür zuständig? Und welche Rolle hat der Staat, die Verwaltung?

Ich denke, Inklusion ist so schwer zu denken, weil Separation (noch) so stark in unseren Köpfen verankert ist. Inklusion setzt Solidarität voraus. Man schaut zueinander, über die Verwandschaftsgrenzen hinaus. Man übernimmt Verantwortung füreinander. Man trägt einander. Das alles klingt natürlich heute wie eine schöne Illusion…

«Die Unterstützung muss zum Behinderten kommen, nicht der Behinderte zur Quelle der Unterstützung.»

Wenn die Gesellschaft Inklusion verwirklichen will, dann muss sie dezentral funktionieren. In den Quartieren oder in den Dörfern, dort wo die Behinderten natürlicherweise zu Hause sind, müssen die Unterstützungsangebote – der von der Gesellschaft zu tragende Nachteilsausgleich – erreichbar sein. Die Unterstützung muss zum Behinderten kommen, nicht der Behinderte zur Quelle der Unterstützung. Ist in der Verfassung nicht die Niederlassungsfreiheit verankert? Ich muss mich als Behinderter frei dort niederlassen können, wo es mir behagt – wie das die Nichtbehinderten ja auch können –, ohne dass es mir dort an der nötigen Unterstützung fehlt. Dass ich mal temporär, zum Beispiel für einen Spitalaufenthalt oder für eine Therapie, woanders hingehen muss, ist klar. Aber mein Lebens- und Wirkungsfeld muss ich frei wählen können. Vielleicht ist das das Kernanliegen der Inklusion auf der Betroffenenseite. Von gesellschaftlicher Seite wäre Vielfalt das Kernanliegen, die Erkenntnis, dass eine bunte, vielfältige, durchmischte Gesellschaft überlebensfähiger ist als eine gleichgeschaltete, normierte, grauschwarze Gesellschaft.

Ich glaube, Inklusion kommt nicht von selbst, sondern ist ein emanzipatorischer und damit gesellschaftspolitischer Prozess. Letztlich muss er von Betroffenenseite initiiert werden – zum Beispiel indem ich als Behinderter auf meiner Niederlassungsfreiheit beharre. Aber auch die Gesellschaft hat ein natürliches Bedürfnis nach Diversität, nach Farbigkeit – oder sollte es zumindest haben. Denn sie ist so robuster, weniger anfällig auf Krankheiten. Vielleicht kann man analog zur Biodiversität von Soziodiversität sprechen, welche die Gesellschaft stärkt. Ausgrenzung und Ghettoisierung waren noch nie fruchtbar.


Lesen Sie auch den Kommentar von Martin Haug, Leiter der Behindertenfachstelle Basel-Stadt.

Nächster Artikel