Während der Ständerat soeben ein neues Überwachungsgesetz durchgewinkt hat, zeigt ein neuer Report auf, wie Schweizerinnen und Schweizer bereits heute abgehört werden.
Man hätte sich grosse Mühe geben müssen, einen ungünstigeren Zeitpunkt zu finden. Seit bald einem Jahr füllen die schier unfassbaren Überwachungsmethoden der US-Geheimdienste die Zeitungsseiten und ausgerechnet jetzt landet ein neues Überwachungsgesetz der Regierung nach Jahren der Vorbereitung in den Räten. Das überarbeitete Bundesgesetz betreffende des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf), so heisst das Gesetz, soll Schweizer Ermittlern die nötigen Instrumente geben, um Verdächtige nahtloser überwachen zu können.
Zu den schärfsten Kritikern der Vorlage gehört die Aktivistengruppe Digitale Gesellschaft Schweiz, eine Gruppierung von rund 50 Personen und 15 Parteien, Netzwerkdienstbetreibern und Grundrechtsorganisationen. Sie zeigt nun in einem neuen Report auf, dass der Bundesrat das Gesetz nicht nur aktualisieren, sondern massiv ausbauen will.
Der Report mit dem Titel «Swiss Lawful Intercept Report 2014» dokumentiert das Ausmass der heutigen Überwachung. Seit 2005 hat sich die Zahl Bespitzelungen verdoppelt. Allein im letzten Jahr haben haben Ermittler 16’000-mal zu Überwachungsmassnahmen gegriffen – wie viele Personen betroffen waren, bleibt im Report unklar (siehe Grafik).
Gründe zum Bespitzeln finden sich immer
Am häufigsten überwachen die Genfer Ermittler: Gemessen an seiner Einwohnerzahl steht der Stadtkanton seit Jahren an der Spitze. In absoluten Zahlen wird im Kanton Zürich am meisten überwacht.
Die Gründe für die Überwachung variieren von Kanton zu Kanton stark. Während es in Neuenburg in rund einem Viertel der Fälle um Drogenhandel ging, hörten die Ermittler der beiden Basel vor allem Verdächtige bei Vermögensdelikten ab. Das können dem Report zufolge beispielsweise Diebstahl, Raub oder Betrug sein.
(Quelle: SLIR 2014)
Die Bundesanwaltschaft will derweil vor allem wegen Finanzdelikten oder im Interesse der Staats- und Landesverteidigung spionieren, namentlich bei Verbrechen wie Wirtschaftsspionage. Nirgends wurde so oft in Echtzeit abgehört wie in Zürich, und nirgends so oft in auf Vorrat gespeicherten Daten gewühlt wie in Genf.
Ermittler sollen hacken dürfen
In beiden Bereichen will die Schweizer Regierung nun noch weiter gehen. Mehr Unternehmen und Organisationen sollen Kommunikationsdaten während eines Jahres auf Vorrat speichern und diese Ermittlern im Verdachtsfalle zugänglich machen müssen. Das ist doppelt so lange wie heute. Ausserdem sollen sich Ermittler in Computer hacken können, um auch verschlüsselte Kommunikation in Echtzeit überwachen zu können.
Beide Neuerungen sind bereits in der Vernehmlassung des Gesetzes auf grosse Kritik gestossen. Den Autoren des Reports zufolge verstösst das Speichern von Daten auf Vorrat gegen die Schweizer Verfassung: «Das verfassungsmässige Fernmeldegeheimnis muss korrekterweise nicht nur garantieren, dass wir alle kommunizieren können, ohne abgehört zu werden, sondern auch, ohne beobachtet zu werden.»
Bis hierher geht es im Gesetz um die sogenannten Meta- oder Randdaten – etwa Sender und Empfänger –, nicht aber um den Inhalt von Gesprächen oder E-Mails. Diese Metadaten werden heute von rund 50 Firmen gespeichert, darunter sind auch die Swisscom und Orange. Mit dem neuen Gesetz hätten die Ermittler Zugriff auf viermal so viele Unternehmen, schreiben die Autoren des Reports. Darunter wären auch Schulen, Bibliotheken oder Spitäler. Wer nicht kooperiert oder eine Ermittlung öffentlich macht, kann mit einer Busse von bis 100’000 Franken bestraft werden.
Randdaten – ein wertvoller Rohstoff
Die Daten beantworten Ermittlern viele Fragen zu einer verdächtigen Person: Mit wem hat sie telefoniert, wem eine E-Mail geschickt oder sonstwie über das Internet kommuniziert? Über welche Plattform? Wo war sie? Welche Geräte benutzt sie? Wie sieht ihr Vertrag aus?
«Aus diesen Randdaten lässt sich viel ablesen», sagt Simon Gantenbein, Informatiker und Mitautor des Reports. «Wenn eine Frau beispielsweise mit einer Abtreibungsklinik telefoniert, gibt dies bereits Informationen preis, ohne dass man den eigentlichen Gesprächsinhalt kennt.»
Andere stellen vor allem den Nutzen der Daten infrage. Auch Befürworter der Datenspeicherung können nicht genau sagen, wie weit diese Informationen den Ermittlern helfen können. Sie seien ja nicht das einzige Instrument der Strafverfolger, meint etwa die Justizministerin Simonetta Sommaruga: «Aber ohne Überwachung haben wir in vielen Fällen gar keine Chance, den Täter zu identifizieren.»
Das Gesetz setzt kaum Schranken
Während unklar bleibt, was das Speichern auf Vorrat bringt, ist klar, wer damit gejagt werden soll: Diebe, Drogenhändler und Räuber. Die Hälfte aller Abhöraktionen zielten auf solche Delinquenten. Nur rund drei Prozent der Belauschungen richteten sich auf potenzielle Wirtschaftskriminelle und nur zwei Prozent auf Sexualstraftäter.
Während früher oft von Kinderpornografie die Rede war, habe die Regierung ihre Kommunikation über die Jahre angepasst, schreiben die Autoren des Reports und verglichen Aussagen der Justizministerin von 2011 und 2013. Wurde der Einsatz von Abhörmassnahmen vor drei Jahren noch als «restriktiv» beschrieben, argumentierte Justizministerin Sommaruga vor rund einem Jahr an einer Medienkonferenz, dass das heutige Angebot an Kommunikationsmitteln für die «Begehung und Vorbereitung von schweren Straftaten» genutzt werden könne, «zum Beispiel für das organisierte Verbrechen, für Drogenhandel, Terrorismus oder Kinderpornografie». Im Gesetzestext selbst wird der Einsatz von Überwachungsmassnahmen dagegen kaum eingeschränkt.
Ganzes Land angezapft
Die Debatte über die Aktualisierung des Gesetzes fällt in eine Zeit, in der immer neue Enthüllungen über die Überwachungsmassnahmen grosser Geheimdienste in den USA, Grossbritannien und anderen Ländern zutage kommen. Diese Woche veröffentlichte die «Washington Post» einen weiteren Artikel zu staatlichen Übergriffen, die seit letztem Juni schon fast zur Gewohnheit wurden: Erstmals konnten US-Geheimdienste jedes einzelne Telefongespräch eines ganzen Landes aufzeichnen und einen Monat lang auf Vorrat speichern.
Es handelte sich um Milliarden von Gesprächen, und jedes einzelne war durchsuch- und abhörbar. Der Codename dieser Aktion lautete «Mystic». Das von der Abhörung betroffene Land blieb unbekannt – nicht aber, dass bis heute sechs neue Länder hinzugekommen sein könnten.
Das Vertrauen in die Behörden ist gestört
Nun hat die Schweizer Strafverfolgung schwerlich die Kapazitäten des grössten Geheimdienstes der Welt. In diesem Gesetz geht es zudem nicht um die Geheimdienste, sondern um Strafverfolgungsbehörden. Wie schwer es aber ist, die Enthüllungen der letzten Monate auszublenden, zeigte sich während der Debatte im Ständerat. Mehrmals kam der «Fall Snowden» zur Sprache, bevor die kleine Kammer das neue Gesetz mit überwältigender Mehrheit billigte.
Das Vertrauen in die Behörden ist gestört. Das gilt vor allem in jenen Fällen, in denen Ermittler Menschen in Echtzeit abhören dürfen. Das ist schon heute möglich. Mithilfe der Anbieter können Strafverfolger zum Beispel SMS und E-Mails mitlesen, Telefonate abhören oder das Internetverhalten in Echtzeit mitverfolgen. Allerdings nur, wenn die Informationen nicht verschlüsselt sind.
«Bundestrojaner» unterscheiden sich kaum von der Software, die Kriminelle benutzen.
Neu sollen auch Gespräche, die verschlüsselt sind, abgehört werden können, indem sich die Ermittler in die Computer von Verdächtigen hacken. Ermittler dürften künftig Geräte von Verdächtigen mit Software infizieren, die es ihnen erlaubt, unbemerkt die Kontrolle über diese Geräte zu übernehmen. Und sie dürfen Gespräche abhören und aufzeichnen, noch bevor sie verschlüsselt werden. Dazu installieren die Ermittler Software direkt in Computern oder senden Verdächtigen infizierte E-Mails.
Unbegrenzte Möglichkeiten
In der politischen Debatte werden diese Softwareprogramme «Bundestrojaner» genannt. Doch sie unterscheiden sich technisch kaum von jenen, die auch Kriminelle nutzen. Der eingeschleuste Staatstrojaner auf Computer oder Smartphones berge ein Sicherheitsrisiko, welches nicht nur Schweizer Ermittlern zugriff erlauben würde, kritisiert Gantenbein. «So können unbeteiligte Dritte – wie andere Staaten – diesen Zugang auf den Computer für eigene Zwecke nutzen.»
Was nach dem Eindringen in den Computer eines Verdächtigen getrieben werden kann, ist technisch fast unbegrenzt – vom Abhören von Gesprächen (was die Regierung will) bis zum ständigen Abhören eines Verdächtigen (was die Regierung ausdrücklich nicht erlauben will) wäre technisch alles möglich. «Nicht erst der konkrete Einsatz einer Funktion beschneidet Grundrechte», hält der Report fest, «sondern bereits dessen Möglichkeit.»
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Lesen Sie mehr zum Thema Überwachung in unserem Dossier: http://www.tageswoche.ch/themen/Überwachung