Essstörungen als Bühnenstoff: Das Theaterprojekt «Alles oder nichts»

Junge Erwachsene aus der Region Basel haben ein Theaterstück erarbeitet, in dem sie ihre Erfahrungen mit Essstörungen zum Ausdruck bringen. «Alles oder nichts» ist das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung – und fordert sein Publikum heraus.

Junge Erwachsene aus der Region Basel haben ein Theaterstück erarbeitet, in dem sie ihre Erfahrungen mit Essstörungen zum Ausdruck bringen. «Alles oder nichts» ist das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung – und fordert sein Publikum heraus.

«Angst. Kennst du auch oder?» Eine junge Frau tritt an den Bühnenrand, die Hände in den Taschen ihres Kapuzenpullovers. «Aber für mich bedeutet Angst, morgens aufzustehen, den Bus zu nehmen, Menschen zu treffen, nett sein zu müssen, essen zu müssen, perfekt sein zu müssen.» Sie fixiert die Zuschauerin: «Bist du wirklich sicher, dass du diese Angst kennst?»

Im Theaterstück «Alles oder nichts» zeigen junge Menschen, was es bedeutet, an einer Essstörung zu leiden. Es ist noch nicht der Ernstfall, doch schon die Probe im Gemeinschaftssaal einer Riehener Wohnsiedlung macht sichtbar, wie viel Ernsthaftigkeit hinter dem partizipativen Theaterprojekt steckt, das am Freitag, 22. August im «Unternehmen Mitte» Premiere feiert. Die Szenen sind eindringlich, die Worte haben Gewicht.

«Reiss dich zusammen!», setzt Flavio* zum rhythmischen Sprechgesang an. «Iss doch einfach etwas!», stimmt Manuel ein. «Das kommt dann schon wieder», mischt sich die aufmunternde Stimme von Salome darunter. Begleitet vom tiefen, treibenden Streicherklang eines Cellos schwellen die Stimmen an, bewegen sich die Protagonisten in Richtung Publikum, formieren sich die Jugendlichen in einer Reihe zum schonungslosen Spiegel ihrer Gegenüber.

Der Ehrgeiz der Essgestörten

Rund fünf von hundert Menschen leiden in der Schweiz an Essstörungen. Am häufigsten betroffen sind Mädchen und Frauen, ein Zehntel der Patienten sind männlich. Die meisten Betroffenen erkranken im jugendlichen Alter. Vielen sieht man die Krankheit nicht an, entsprechend einseitig ist die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

Die Annahme, dass an Magersucht oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) erkrankte Menschen einem falschen Schönheitsideal nachjagten und damit aufhören könnten, wenn sie nur wollten, ist weit verbreitet. In Tat und Wahrheit handelt es sich um tiefgreifende psychosomatische Erkrankungen, die den ganzen Organismus erfassen und verändern. «Das Projekt hat mich gereizt, weil es die Möglichkeit bietet, unsere Krankheit einmal in all ihren Facetten zu zeigen», erklärt Philomena.

Die Frage, was die Betroffenen selbst der Öffentlichkeit mitteilen möchten, stand denn auch im Zentrum der künstlerischen Arbeit unter der Leitung von Stephan Laur (Regie), Barbara Imobersteg (Dramaturgie) und Michael Bürgin (Musik), die vor neun Monaten mit rund zwanzig Mitwirkenden ihren Anfang nahm. «Wir haben es mit sehr kreativen und kritischen jungen Menschen zu tun», betont Laur, der in Deutschland bereits ähnliche Projekte mit krebskranken Jugendlichen realisiert hat. Auf inhaltliche Vorgaben und eine Selektion der Teilnehmenden hat die Projektleitung bewusst verzichtet.

Obwohl Laien, bringen viele Darstellerinnen und Darsteller von «Alles oder nichts» ein hohes schauspielerisches, musikalisches oder tänzerisches Können mit. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Menschen mit Essstörungen oft sehr ehrgeizig sind. Ausserdem bewältigen viele Betroffenen ihren Krankheitsprozess mithilfe des Schreibens. So brachten einige Teilnehmende bereits bestehende Texte ins Stück ein, während andere Inhalte aus Gesprächen und Improvisationen heraus entwickelt wurden. Entstanden ist ein rund einstündiges Werk, das ein vielschichtiges Bild innerer Landschaften zeichnet und gewohnte Blickwinkel infrage stellt.  

Heilung als Nebeneffekt

Die Bewältigung einer Essstörung ist ein langwieriger Prozess, der von den Erkrankten und ihren Familien viel abverlangt. Die gesellschaftliche Stigmatisierung, mit der Betroffene häufig konfrontiert sind, macht den Weg aus der Krankheit noch beschwerlicher. Entsprechend viel Sensibilität erfordert die Auseinandersetzung damit im Rahmen eines Theaterprojekts. Auf die Befindlichkeit der Teilnehmenden wurde nicht nur während der Proben sorgsam achtgegeben, sondern sie hatte bis zuletzt auch Einfluss auf den Inhalt des Stückes.

«Ich wünsche mir, dass die Leute mutiger werden, Fragen zu stellen.»

Salome, Mitwirkende

«Nach einem halben Jahr gemeinsamer Probearbeit haben die Mitwirkenden plötzlich den Wunsch geäussert, die zuweilen heftigen Szenen mit hoffnungsvolleren Beiträgen zu ergänzen», berichtet Regisseur Laur. «Alles oder nichts» versteht sich zwar explizit nicht als therapeutisches Projekt. Doch im Theater finden die Beteiligten einen künstlerischen Freiraum, der ihnen neue Sichtweisen auf die eigenen Erfahrungen eröffnet – und so positive Veränderungen herbeiführen kann. Losgelöst von den Anforderungen einer Therapie ist eine unbeschwertere Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit möglich. Denn auf der Bühne spielt niemand seine persönliche Geschichte oder interpretiert seine eigenen Texte.

«Ich habe mich extrem weiterentwickelt durch das Projekt», erzählt Salome. Dass bei der Erarbeitung des Theaters auch Mitwirkende dabei waren, die selber keine Essstörungen kennen, hat Vertrauen geschenkt, sich nach aussen zu öffnen. Wenn die Nervosität kurz vor dem Ernstfall der Premiere auch steigt, so überwiegt doch die Überzeugung, dass ein Austausch mit dem Umfeld wichtig ist. «Ich wünsche mir, dass die Leute mutiger werden, Fragen zu stellen», sagt Salome. Eine Einladung, der man unbedingt Folge leisten sollte. 

*Die Namen der Mitwirkenden wurden zu ihrem Schutz geändert.

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«Alles oder nichts» 
22./23./24. und 29./30. August, 20 Uhr, Unternehmen Mitte Basel 
31. August und 1. September, 20 Uhr, Kulturhotel Guggenheim Liestal

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