Fantastische Kinderliteratur: Wie Tagträume eine Welt gebären

Die Kommunikationsfachfrau Anna Kornicker entführt mit ihrem Erstlingswerk «Jina und Kor» junge Leser in fremde Welten. Zwischen den Zeilen wirft das Kinderbuch einen kritischen Blick auf unsere perfektionistische Gesellschaft.

Andrea Kornicker im Unternehmen Mitte, dem Ort, wo der grösste Teil von «Jina und Kor» entstand. 

(Bild: Nils Fisch)

Die Kommunikationsfachfrau Anna Kornicker entführt mit ihrem Erstlingswerk «Jina und Kor» junge Leser in fremde Welten. Zwischen den Zeilen wirft das Kinderbuch einen kritischen Blick auf unsere perfektionistische Gesellschaft.

Flüge auf dem Rücken eines Weisskopf-Seeadlers, ein kleiner Delfin im Taschenformat, ein Fantasiehaus, in dem man alles ausprobieren kann, was man nur will: Die Geschichte «Jina und Kor» liest Kindern ihre Wünsche von den Lippen ab.

Das Kinderbuch erschien im April diesen Jahres und ist das Erstlingswerk von Anna Kornicker. Wie ihr neues Kinderbuch entstand? Die Autorin antwortet erst mit einem Schulterzucken. «Ich habe meiner Fantasie einfach freien Lauf gelassen», sagt sie dann. Das mag abgedroschen klingen oder wie eine Floskel, könnte aber ihre Schreibtechnik kaum besser beschreiben. Denn am Anfang der Geschichte von Jina und Kor standen Tagträumereien.



Raffel, der traurige Diener der dunklen Herrschers Ochmond, war die erste Figur, die der Autorin erschien.

Raffel, der traurige Diener der dunklen Herrschers Ochmond, war die erste Figur, die der Autorin erschien. (Bild: Andrea Gruber)

Lange bevor sie die Idee hatte, ein Buch zu schreiben, habe sie angefangen, sich tagsüber in kurze meditative Zustände zu begeben, erzählt Kornicker, «dabei sind mir immer wieder unterschiedliche Figuren und Geschichten erschienen». Irgendwann spürte sie das Verlangen, eine Geschichte mit anderen zu teilen und aufzuschreiben. Sie begann, gezielter nach zusammenhängenden Inhalten zu suchen. So habe sich ein Netz aus Personen, Handlungen und Orten ergeben.

Die Sprache der Fantasie

Diese spezielle Schreibtechnik braucht Zeit, Kornicker war neben ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen über vier Jahre lang mit «Jina und Kor» beschäftigt. Doch das Produkt stand nicht im Vordergrund, die Autorin beschreibt den Prozess als persönliches «Herzensprojekt». Hauptberuflich ist sie als Kommunikationsleiterin für Pro Specie Rara und das Jazzfestival Basel tätig.

Selbst geschrieben hat die 45-Jährige bisher nicht. Die Sprache der «magischen, ereignisreichen Fantasie-Welten, zum Beispiel in Büchern von Astrid Lindgren», hätte sich aber schon immer «vertraut angefühlt». Ihre eigenen Kinder dienten nicht nur als Inspirationsquelle, sondern waren in den Schreibprozess involviert: «Ich habe meinem Sohn und meiner Tochter am Abend vorgelesen, was ich am Tag geschrieben hatte. Sie waren kritisch, haben mich aber auch gedrängt, weiterzuschreiben – sie wollten ja wissen, wie es weitergeht.»

Am Anfang der Geschichte stand ein trauriger Vogel

Die Geschichte startete in Kornickers Fantasiewelt nicht mit den Helden, sondern mit einer Randfigur: «Der Erste, der mir erschien und klarmachte, dass er in die Geschichte wollte, war Raffel, ein Vogel, der nicht fliegen konnte.» Es stellte sich heraus, dass Raffel der Diener von Ochmond, dem Lord der dunklen Welt ist. Die dunkle Welt wird von Jina und Kor aufgesucht, nachdem sie in ihrem Bergdorf seltsame Dinge bemerken: Die Bewohner verändern sich und werden immer böser. In den fremden Welten suchen sie nach der Ursache dieses Übels. Dabei werden sie immer wieder auf die Probe gestellt und müssen Mut beweisen, erleben aber auch viele lustige Abenteuer.

Die 183 Seiten lange Geschichte hat ein beachtliches Tempo. Ortswechsel passieren manchmal so magisch schnell, dass einem die Orientierung schwerfällt. Doch wer braucht schon Orientierung in einer Traumwelt? Dass die zauberhafte Erzählung einem meditativen Zustand entspringt, glaubt man Anna Kornicker sofort.



Im ereignisreichen Kinderroman von Anna Kornicker fällt die Orientierung nicht immer leicht – die Illustration von Andrea Gruber schafft Abhilfe

Im ereignisreichen Kinderroman von Anna Kornicker fällt die Orientierung nicht immer leicht – die Illustration von Andrea Gruber schafft Abhilfe (Bild: Andrea Gruber)

Doch so magisch-traumhaft die Geschichte auch ist – an manchen Stellen liest sie sich wie eine direkte Gesellschaftskritik: Da ist der nette, liebenswerte Lehrer, der sich plötzlich in ein Monster verwandelt. Oder der lustige, starke Vater, an dessen Stelle eines Tages eine furchteinflössende Gottesanbeterin am Esstisch sitzt. Es sind einprägsame Bilder. «Ich thematisiere damit wichtige Ansprechpersonen, die unter dem hohen Leistungsdruck und durch den ständig überfüllten Terminkalender in den Augen der Kinder zu Monstern werden», sagt Kornicker.

Gegensätze vereinen

Nicht nur die dunkle, offensichtlich böse Welt der machtsüchtigen Menschen muss von den jungen Helden Jina und Kor gerettet werden, sondern auch die helle, schöne Welt. Als sich Ochmond und Kresna, die Herrscher dieser gegensätzlichen Welten, als Ehepaar vereinen, verschwindet das Übel, und die Regenbogenfarben finden ihren Weg zurück in die verschiedenen Welten, bis in das Bergdorf von Jina und Kor.

Auch hier zieht Kornicker eine Parallele zu unserer Gesellschaft. Sie ist überzeugt, dass die Polarisierung das eigentliche Übel darstellt: Gut und schlecht, fleissig und faul, schön und hässlich – diese Gegensätze seien allgegenwärtig, sagten uns ständig, was wir tun oder lassen sollen. «Das Streben nach Perfektion wird als etwas Gutes dargestellt», sagt Kornicker, «auch die Medien reproduzieren diesen Stress, indem sie uns möglichst schöne und erfolgreiche Menschen zeigen.»

Kornicker verstehe den Druck, sich selbst verwirklichen und etwas aus sich machen zu wollen. Doch wer diesen Idealen blind hinterherjage, verliere sich selbst. «Die menschliche Suche nach Schönheit und Macht braucht ein Gegengewicht», ist Kornicker überzeugt, «wir sollten uns öfter unseren Tagträumen und dem Müssiggang hingeben. Es braucht Platz für Leere, damit etwas Neues entstehen kann.» Und darum ist «Jina und Kor» genau das geworden – ein leidenschaftliches Plädoyer für die Fantasie.

Die Basler Grafikerin Andrea Gruber erstellte collageartige Illustrationen zu der Geschichte. Die beiden Frauen lernten sich im Unternehmen Mitte kennen, wo Kornicker an der Geschichte schrieb, und nutzten so beide die Chance, etwas Neues auszuprobieren: Während Kornicker noch nie für sich selbst geschrieben hatte, war Gruber ein Neuling auf dem Gebiet der Illustrationen, und bis anhin eher als Grafikerin tätig. Dem Endprodukt merkt man davon nichts an: Die Illustrationen nehmen die Sprache der einfühlsamen Geschichte geschickt auf und runden das Buch ab.

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