Mit Pilzlern ist es ein bisschen wie mit Weinconnaisseuren: Jeder muss zeigen, dass er der Hirsch ist. Dass er am besten drauskommt, die meisten Sorten kennt. An diesem Donnerstagnachmittag ist der Fall aber klar: Der Hirsch ist Ursula Gass.
Die 50-Jährige steht in einem kleinen Raum im Kantonslabor Basel-Stadt am Burgfelderplatz. Vor ihr ein kleiner Tisch, neben ihr eine Waage unter einem kleinen Fenster mit Gitterstäben, es steht offen. Eine Stunde lang macht sie Pilzkontrolle: Die Sammler bringen ihre Pilze vorbei, Gass schaut, ob sie essbar sind. Das ist ein Service des Kantons zum symbolischen Beitrag von einem Franken. Früher waren die Kantone verpflichtet, solche Pilzkontrollen anzubieten. Seit der Änderung des Lebensmittelgesetzes 1992 und der Revision der Pilzverordnung ist es den Kantonen überlassen, ob sie freiwillig eine anbieten wollen.
Tödliche Täuschung
Ursula Gass findet die Kontrolle – selbstverständlich – wichtig. «Sonst ergeht es den Pilzlern wie dem Vater, der mit seinen Kindern vor ein paar Jahren im Wald war.» Er glaubte, Pilze aus der Kindheit gefunden zu haben. Seine Kinder fanden, sie schmeckten sonderbar und assen sie nicht. Der Vater starb einige Tage später an einer Vergiftung.
Aber zurück zu den Lebenden. Eine ältere Frau ist an der Reihe, sie legt einen faustgrossen, braunen Pilz auf den Tisch. «Du bleib nur draussen», sagt sie in Richtung Eingangstüre. Dort steht ihr Mann. «Er sagte, das sei ein Steinpilz, ich sagte nein, dann haben wir angefangen zu streiten», sagt sie zu Gass. «Wer hat jetzt Recht?»
«Es ist ein Steinpilz», antwortet diese. Plötzlich stutzt sie. Ein Mann schaut durch die Gitterstäbe des offenen Fensters herein. «Ah, jetzt hat Ihr Mann doch noch einen Zugang gefunden», sagt sie zur Pilzlerin. «Ich sage jetzt lieber nichts», sagt diese trocken. Und dann, plötzlich, schleicht sich doch noch ein Grinsen in ihr Gesicht.
«Sofort rüsten, gäll»
Gass kann das, die Leute zum Lachen bringen. Sie witzelt im munteren Thurgauer Dialekt drauflos, während sie die Pilze dreht, daran riecht, sie aufschneidet, und wie nebenher auf Unterschiede zwischen Pilzsorten deutet. Sie ist nicht nur Kontrolleurin, sie ist eine Art Lehrerin. Mit langjährigen Stammkunden als eifrige Schüler. Ein älterer Italiener nennt die Namen der Pilze, die er – schön nach Familie getrennt, wie Gass es gerne hat – auf die Theke legt. Dann wartet er, ob er mit seiner Analyse Recht hatte. Er hat. Sein Gesicht entspannt sich.
Andere Pilzler sind weniger sorgfältig, legen die Pilzsorten alle durcheinander ins Körbchen. Das ist ungünstig: Wenn Gass nur einen einzigen Knollenblätter-Pilz in einem Korb mit Champignons findet, wirft sie die ganze Ernte weg. «Ich gehe nicht das Risiko ein, dass sich ein Stückchen vom Knollenblätter-Pilz gelöst hat und unbemerkt im Essen landet.» Schon 30 Gramm können jemanden in Lebensgefahr bringen.
Die Natur ist alles
Gass ist sich fast immer sicher, welchen Pilz sie vor sich hat. Ist sie es nicht, konfisziert sie den Pilz. «Ich muss in der Nacht ruhig schlafen können.» Pilze erkennen ist eine hohe Kunst, Gass nennt es «Fleissarbeit». Als sie sich für den Job der Pilzkontrolleurin bewarb, wusste sie nicht, was sie erwartete.
Gass ist ausgebildete Lebensmittelkontrolleurin, wenn sie nicht Pilze kontrolliert, überprüft sie fürs Kantonslabor, ob Nahrungsmittelverkäufer wie Metzgereien, Restaurants oder Kebab-Läden hygienisch arbeiten. Als sie das Inserat für die Pilzkontrolle sah, lockte sie der Natur-Faktor am Job. Gass ist in einer Bauernfamilie im Thurgau aufgewachsen und hat die Bäuerinnenschule besucht. Heute lebt sie im Schwarzbubenland und fährt mit dem Elektrobike zur Arbeit. In der Stadt leben könnte sie nicht. Sogar das Dorfleben war am Anfang ungewohnt. Der Weiler ihrer Kindheit besteht aus einer Handvoll Häuser. «Im Dorf hatte ich plötzlich Nachbarn.»
Raus hier
Naturliebe allein reicht aber nicht aus für eine Pilzkontrolleurin. Gass musste büffeln wie verrückt und eine einwöchige Prüfung absolvieren. Dazu gehört, 70 Pilze zu erkennen – bestimmt man einen falsch, fällt man durch.
Minimale Unterschiede entscheiden über gut oder giftig. Zum Beispiel beim Fliegenpilz. Wer ihn isst, fühlt sich wie betrunken, manchmal produziert er sogar Angststörungen und Depressionen. Das Tückische an ihm: Jeder weiss, wie er aussieht. Ausser er ist noch jung, dann sieht er fast aus wie ein Bovist: weiss und kugelig. Den Bovisten kann man essen. Um sie zu unterscheiden, muss man sie aufschneiden. Der Fliegenpilz hat etwas, was der Bovist nicht hat: Lamellen und einen roten Rand im Inneren des Huts.
Aber auch Gerüche sind wichtig. Manchmal schickt Gass Leute deshalb vor die Tür. «Wenn jemand geraucht hat oder Parfüm trägt, rieche ich nichts mehr.» Auch, wenn die Pilzler alle nach vorne drängen und Gass reinreden, schickt sie sie raus. Dann zeigt sie, wer die Chefin ist.
Heute ist das nicht nötig. Zwei Männer kommen zur Türe hinein, Vater und Sohn. Sie stellen einen Korb Eierschwämmli auf den Tisch. Alles gut. Gass ermahnt aber: «Sofort rüsten, gäll. Nicht noch warten. Sonst laufen Ihnen diese Pilze davon, gäll, das geht schnell. Dann haben sie Protein.» Andere Pilze wirft sie direkt in den Abfall. «Diese sind schon ganz vermadet, schauen Sie die Löcher im Stiel.» Oder: «Die sind verschimmelt, gäll. Wenn Sie die essen, kriegen Sie Bauchweh.»
Das nennt man «unechte Pilzvergiftung». Doch es gibt Pilzler, die Gass nicht glauben. Die selber Experten sein wollen. Sie sagen dann: «Doch, doch, diesen Eierschwamm esse ich noch.» Gass lässt sie: «Das sind Erwachsene, ich kann sie dann nicht davon abhalten, ihre alten Pilze wieder mitzunehmen.» Aber einen Schein gibt sie ihnen nicht.
Die Saison wird gut
Auf dem Schein notiert sie normalerweise die Pilzsorte und das Gewicht. Gass behält einen Abzug davon, für die Pilzstatistik des Kantons. Die Statistik im Jahr 2016 war so dünn, wie die Pilzsaison schlecht war – der Herbst war zu kurz und zu heiss für die Pilze. Nur 197 Kontrollen führten die Kontrolleure entsprechend durch, darunter tauchten auch ein paar giftige Pilze auf. Dieses Jahr wird besser, die Saison hat gut angefangen. Das sieht man auch am Andrang an diesem Donnerstag: Es kommen 15 Pilzler, Gass schafft es gerade so, alle innerhalb der vorgesehenen Stunde zu kontrollieren.
Wenn sie frei hat, geht sie selber auch in die Pilze. Aber lieber unter der Woche, am Wochenende hat es zu viele Leute im Wald. «In einer Reihe hintereinander herzulaufen, das ist nicht mein Ding.» Klar, sie finde auch dann noch Pilze, wenn andere das meiste schon abgegrast hätten. «Es gibt immer noch einen Pilz, den nur Profis kennen.» Aber sie sammelt nur so viele, wie sie frisch essen und verschenken kann. Sie, die Naturliebhaberin, hat kein Verständnis für Sammler, die gierig kiloweise Pilze heimnehmen. Ihr reicht es manchmal auch, die Pilze einfach nur anzuschauen. «Wenn da so ein Grüppchen Fliegenpilze im grünen Wald leuchtet, vom kleinen bis zum grossen Pilz, etwas Schöneres gibt es nicht.»
Öffnungszeiten der Pilzkontrolle Basel-Stadt.