Flucht nach Europa: «Germany! Germany!»

Tausende Flüchtlinge suchen Schutz in Europa. Unser Korrespondent begleitet sie auf ihrer Route von Griechenland nach Österreich. Teil 4.

Manche Kinder posieren gerne vor den Kameras. Das bringt etwas Abwechslung für sie selbst. Und die Eltern sind dankbar.

(Bild: Wassilis Aswestopoulos, n-ost)

Tausende Flüchtlinge suchen Schutz in Europa. Unser Korrespondent begleitet sie auf ihrer Route von Griechenland nach Österreich. Teil 4.

Budapest, Donnerstag, 4. September, 6 Uhr: Bereits gestern Nachmittag war ich mit der Kamera am Budapester Ostbahnhof. Die Eindrücke von dort habe ich auch nach einigen Stunden Ruhe noch nicht verarbeitet. Ich beschliesse, mir die Situation noch einmal, diesmal ohne Fotorucksack, anzuschauen.

Mit der Kamera in der Hand war ich für einige Flüchtlinge ein rotes Tuch. «No pictures please – keine Bilder bitte», ruft eine Gruppe Flüchtlinge den Reportern immer wieder zu. Die Menschen sind genervt von den vielen Journalisten. Im Ostbahnhof von Budapest befinden sie sich zudem wie in einem Zoo: Der Transitbereich des Bahnhofs ist mit einem Gitter vom übrigen Bahnhof getrennt. Ausserhalb des Gitters flanieren Reporter, Touristen und Einheimische. Grimmig blickende, martialisch wirkende Polizisten stehen Wache.

Es ist verständlich, dass sich niemand gern in einer solchen Situation fotografieren lassen möchte. Ohne Kamera komme ich mit einigen in ein kurzes Gespräch. Schleuser kann ich am Bahnhof nicht entdecken.



Die Gitter-Abtrennung des Transitbereich vom übrigen Bahnhof schafft eine Situation wie im Zoo.

Die Gitter-Abtrennung des Transitbereich vom übrigen Bahnhof schafft eine Situation wie im Zoo. (Bild: Wassilis Aswestopoulos, n-ost)

 

Frei bewegen können sich die Eingeschlossenen im umgitterten Bereich sowie auf dem östlichen, zentralen Vorplatz des Bahnhofs. Regelmässig sammeln sich hier vor allem junge Männer. Sie rufen im Chor: «Germany! Germany!»

Auf dem Vorplatz parken – wegen der Stromversorgung – auch Ü-Wagen der Fernsehteams. Hinter einem von ihnen schläft eine Flüchtlingsfamilie mitten in den Abgasen des Auspuffs. Ich möchte aufschreien, sehe aber wenige Meter weiter eine weitere Abgasschleuder. Ein paar junge Araber laden ihre Mobiltelefone an einem Stromgenerator eines anderen Fernsehteams auf.

Jeder Ausgang ist von massiven Polizeikräften versperrt. Viele der Polizisten tragen Krankenhausmasken. Jeder Versuch von Flüchtlingen, den Ort zu verlassen, ist zum Scheitern verurteilt. Wer es trotzdem versucht, wird rüde zurückgetrieben.



Für die Körperhygiene wird genutzt, was eben vorhanden ist.

Für die Körperhygiene wird genutzt, was eben vorhanden ist. (Bild: Wassilis Aswestopoulos, n-ost)

Diejenigen, die hier verzweifelt und ohne Aussicht auf eine Weiterreise warten, müssen hier einen Schlafplatz finden, ihre Notdurft verrichten sowie sich an einem der sechs provisorischen Wasserhähne waschen. In einigen Ecken ist der Gestank unerträglich. Es fehlt schliesslich an sanitären Einrichtungen. Dennoch sind alle bemüht, sich regelmässig zu waschen.

Mitten in diesem Chaos gibt es Flüchtlinge, die in der Kamera ein Sprachrohr zur Aussenwelt sehen. Sie lassen sich gern fotografieren, bitten oft sogar darum und bedanken sich, wenn ihnen das Bild zusagt. Gerade diese Haltung wird von den Kindern oft kopiert. Die Kleinen freuen sich, wenn sie ihr Konterfei im Display der Kameras sehen. Das Lächeln des Kindes führt dann zu Dankbarkeit der Eltern, die darunter leiden, dass sie ihren Kindern keinerlei Ablenkung liefern können. Anders als es das Klischee erwarten lässt, spielen auch verschleierte Frauen gern mit ihren Kindern vor der Kamera.



Manche Kinder posieren gerne vor den Kameras. Das bringt etwas Abwechslung für sie selbst. Und die Eltern sind dankbar.

Manche Kinder posieren gerne vor den Kameras. Das bringt etwas Abwechslung für sie selbst. Und die Eltern sind dankbar. (Bild: Wassilis Aswestopoulos, n-ost)

 

Kurz bevor ich den Bahnhof verlasse, erfahre ich, dass bald wieder ein Zug gen Norden fahren soll. In der Hoffnung, dass vielleicht doch alles noch gut wird, fahre ich ab. Im Autoradio höre ich, dass die Flüchtlinge getäuscht wurden. Der Zug nach Norden endete in einem Lager nur vierzig Kilometer vom Ostbahnhof von Budapest entfernt.

Ich ärgere mich darüber und wundere mich umso mehr, dass ich von Ungarn nach Österreich ohne jegliche Kontrolle über die Grenze komme. Zwar ist dies im Schengen-Raum üblich, aber es macht die Blockadepolitik der ungarischen Regierung in meinen Augen zur Farce.

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Teil 1: Von Griechenland nach Österreich: Auf der Route der Flüchtlinge 
Teil 2: «Es ist Irrsinn: Zwei Bäume als Tor nach Europa für 20’000 Menschen am Tag» 
Teil 3: «Geld für die Fahrkarte haben wir, aber nehmen die uns mit?»
Teil 4: Haben Sie gerade gelesen.
Teil 5: folgt am Samstag. 

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