Frauenhäuser: Wie sichtbar darf ein Schlupfloch sein?

Häusliche Gewalt ist weit verbreitet. Doch weil sie hinter verschlossenen Türen stattfindet, bekommt die Öffentlichkeit wenig davon mit. Fachpersonen diskutieren nun einen Ansatz, der dies ändern will – und die Gesellschaft in die Pflicht nimmt.

In diesem Einfamilienhaus im aargauischen Islisberg, aufgenommen am Dienstag, 31. Mai 2005, hat ein 37-jaehriger Familienvater am Vortag seine Frau und seine beiden Kinder mit einem Hammer erschlagen. Danach veruebte er mit einem Sprung von der Lorzentobelbruecke im Kanton Zug Selbstmord, wie die Aargauer Kriminalpolizei mitteilte. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella) (Bild: ALESSANDRO DELLA BELLA)

Häusliche Gewalt ist in der Schweiz weit verbreitet. Doch weil sie hinter verschlossenen Türen stattfindet, bekommt die Öffentlichkeit wenig davon mit. Fachpersonen diskutieren nun einen Ansatz, der dies ändern will – und die Gesellschaft in die Pflicht nimmt.

Jede fünfte Frau in Europa erlebt physische oder psychische Gewalt in der Partnerschaft. In der Schweiz geht die Hälfte aller Tötungsdelikte auf häusliche Gewalt zurück. 75 Prozent der Betroffenen von Körperverletzungen, Drohungen, Beschimpfungen, Stalking oder Vergewaltigung in Beziehungen sind weiblich.

«Es handelt sich um ein erhebliches Menschenrechtsproblem», hält die Sozialwissenschaftlerin Eva Büschi von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) fest. Ein vernachlässigtes indes, denn obwohl häusliche Gewalt seit 2004 von Amtes wegen strafbar ist, spricht man nur selten darüber: Für viele Menschen sind Beziehungsprobleme und Schwierigkeiten in der Familie Privatsache. Erst recht, wenn sie eskalieren.

Zufluchtsort an Geheimadresse …

«Gewalt in der Beziehung darf kein gesellschaftliches Tabu-Thema mehr sein», fordert deshalb Isabelle My Hanh Derungs, Stiftungsrätin des Frauenhauses Aargau-Solothurn. Betroffene sollen sich nicht mehr verstecken und für das erlebte Leid schämen müssen. Mit der Ankündigung, über ein sichtbares Frauenhaus nachzudenken, das in der Öffentlichkeit bekannt ist und den schutzsuchenden Frauen dennoch einen sicheren Zufluchtsort bietet, hat das Frauenhaus AG-SO in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt. Denn bisher wurden die Adressen von Frauenhäusern in der Deutschschweiz strikt geheim gehalten.

Dass dies auch so bleiben soll, dafür setzen sich das Frauenhaus Luzern und die Dachorganisation der Frauenhäuser der Schweiz und Lichtenstein vor Gericht ein, seitdem die Interessengemeinschaft Antifeminismus im Januar 2011 drohte, sämtliche Adressen von Frauenhäusern zu veröffentlichen. Per superprovisorischer Verfügung konnte das verhindert werden, seither ist ein formal-juristisches Verfahren zur Klärung der Rechtslage im Gange.

… oder öffentlich sichtbares Frauenhaus?

In der Fachszene ist man sich einig, dass es weiterhin geheime Häuser für sogenannte Hochrisikofälle in lebensbedrohlicher Lage braucht. Das ist auch beim holländischen Modell des Oranje Huis nicht anders, das dem Frauenhaus AG-SO als Vorbild für seinen neuen Ansatz dient.

«Die Sicherheit aller involvierten Personen hat bei uns oberste Priorität», betont Ingeborg Schenkels, Leiterin des holländischen Pionierprojekts, die das Konzept kürzlich an einer Fachtagung in Olten präsentierte. Die Bekanntheit des orangen Hauses in Alkmaar/NL ist nur einer von mehreren Faktoren, deren Zusammenspiel den Gewaltbetroffenen, aber auch Fachpersonen und der Gesellschaft, neue Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit häuslicher Gewalt eröffnen soll.

Das Modell ist eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass häusliche Gewalt nicht einfach das Problem einzelner Personen ist, sondern sich in einem komplexen Wirkungsfeld sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Mechanismen abspielt. Meldet sich eine von Gewalt betroffene Person bei der Beratungsstelle des Oranje Huis – das rund um die Uhr gesichert und überwacht ist –, nehmen die Sozialarbeiterinnen in Zusammenarbeit mit der Polizei eine Risikoeinschätzung vor, aufgrund der sie gemeinsam mit den Beteiligten die weiteren Massnahmen beschliessen.

Simple Täter-Opfer-Muster greifen zu kurz

Befindet sich eine Frau in lebensbedrohlicher Lage, kommt sie in einem externen «Safe House» unter. Lässt es die Situation hingegen zu, so nehmen die Beraterinnen so bald wie möglich mit dem gewaltausübenden Partner Kontakt auf. In einem nächsten Schritt wird das Gespräch mit weiteren Familienmitgliedern und Personen aus dem sozialen Umfeld des Paares gesucht und so an einer ganzheitlichen Konfliktlösung gearbeitet.

Dieser «systemische Ansatz» folgt der Erkenntnis, dass häusliche Gewalt nicht eindimensional auf einen gewalttätigen Partner zurückzuführen ist, sondern Ausdruck einer schwierigen Beziehungskonstellation ist. Während sich die systemische Betrachtung der Familie in der Psychotherapie bereits etabliert hat, lag der Fokus im Umgang mit häuslicher Gewalt bisher auf der Arbeit mit Opfer oder Täter.

Interventionen von Frauenhäusern sind zwar effektiv, doch nach deren Abschluss geht die Gewalt oft weiter.

Die Gewaltforschung hat jedoch gezeigt, dass das Opfer-Täter-Schema häufig zu kurz greift. Verbale oder physische Übergriffe eines Partners lösen gesteigerte Reaktionen beim Gegenüber aus. Gewaltbetroffene Personen übernehmen die erfahrenen Verhaltensmuster und übertragen sie wiederum auf andere Familienmitglieder, zum Beispiel die Kinder.

Studien haben ausserdem ergeben, dass die kurzfristigen Interventionen von Opferberatungsstellen und Frauenhäusern zwar effektiv sind, sich die Gewaltspirale nach deren Abschluss aber häufig weiter dreht. Nicht nur im Falle einer Trennung oder Anzeige kann es zu erneuten Drohungen und Übergriffen kommen.

Viele Paare wollen ihre Beziehung aufgrund von emotionalen oder materiellen Bindungen grundsätzlich weiterführen, fallen aber früher oder später in alte Verhaltensmuster zurück. «Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass Frauen nach ihrem Aufenthalt im Oranje Huis viel besser in der Lage sind, zu entscheiden, ob sie zum Partner zurückkehren wollen und Hilfeleistungen ihres Umfeldes akzeptieren oder ob die Bedingungen für eine Trennung in Sicherheit erfüllt sind», sagt Ingeborg Schenkels.

Hilfsangebot soll bekannter werden

Der Weg aus der Anonymität und der Einbezug von Tätern ist für Gewaltbetroffene wie auch für Mitarbeitende ein grosser Schritt. Er erfordert die sorgfältige Schulung von Fachpersonen und eine langfristige Begleitung der hilfesuchenden Personen. «Das Fangnetz um die Klientinnen darf keine Löcher haben», betont Schenkels. Entscheidend sind insbesondere auch die Einschätzung und die fortlaufende Überprüfung der individuellen Gefährdungssituation. Gefragt ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Stellen.

Bei häuslicher Gewalt sind neben der Opferberatungsstelle oder dem Frauenhaus oft auch Polizei und Rechtsanwälte, das Jugendamt oder die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde und je nach Hintergrund auch noch das Sozial- oder Migrationsamt involviert. «Die Vielfalt der Hilfsinstitutionen kann zu Unübersichtlichkeit und mangelnder Kooperation zwischen den zuständigen Stellen führen», stellt Eva Büschi von der FHNW fest. Jede Institution hat ihre eigenen Strukturen und Fristen – von unterschiedlichen Handhabungen in den einzelnen Kantonen ganz zu schweigen.

Nach dem Vorbild des Oranje Huis strebt das Frauenhaus AG-SO nun die Entwicklung eines niederschwelligen Kompetenzzentrums an, das die unterschiedlichen Dienstleistungen und Fachstellen miteinander vernetzt. «Ich kann nicht sagen, dass dieses Modell alle Probleme löst», kommentiert Büschi. «Es bietet jedoch den Vorteil, dass Gewaltbetroffene umfassende Hilfe unter einem Dach finden.» Heute wissen viele Menschen gar nicht, an wen sie sich in einer Notsituation überhaupt wenden können.

Keinen Platz für Hilfesuchende

Ganz neu ist die Idee in der Schweiz jedoch nicht: In Lausanne arbeitet das Frauenhaus MalleyPrairie bereits seit mehreren Jahren mit dem systemischen Ansatz, der Standort des Zentrums ist bekannt. Auch in der Deutschschweiz gibt es Häuser mit offener Adresse, sie dienen als Zwischenlösung vor der Rückkehr ins selbstständige Wohnen.

Ob ein sichtbares Frauenhaus dereinst auch in der Deutschschweiz Realität wird, ist aber nicht nur eine Frage der Reorganisation und Vernetzung, sondern primär auch eine der Finanzierung und des politischen Willens. Neben öffentlichen Häusern müssten die Kantone auch weiterhin genügend Schutzplätze für Hochrisikofälle zur Verfügung stellen. Doch gerade ausserkantonale Platzierungen sind teuer. Schon heute beklagen die Frauenhäuser Platzmangel und fehlende finanzielle Ressourcen.

Laut dem Länderbericht von Women Against Violence Europe, der sich an den Empfehlungen des Europarates orientiert, fehlten in der Schweiz letztes Jahr 527 Schutzplätze. Im Schnitt mussten 20 Prozent der hilfesuchenden Frauen abgewiesen werden. Auf die Interpellation von SP-Nationalrätin Yvonne Feri (AG) hin läuft nun eine Bedarfsanalyse des Bundes, deren Resultate diesen Winter vorliegen sollen. «Es braucht nicht nur zusätzliche Plätze, sondern eine neue Strategie im Umgang mit häuslicher Gewalt», fordert Monika Küng, Grossrätin der Grünen im Kanton Aargau und Co-Präsidentin des Frauenhauses AG-SO.

In der Fachszene ist eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit den historisch gewachsenen Strukturen und Handlungsweisen der Hilfsinstitutionen festzustellen. Was aber noch weitgehend fehlt, ist ein öffentliches Bewusstsein vom Ausmass, den Ursachen und Folgen von häuslicher Gewalt in der Schweiz. Angst, Scham oder Bagatellisierung halten viele Betroffene davon ab, sich Hilfe zu holen und über ihre Situation zu sprechen. Darin spiegeln sich auch Werte unserer Gesellschaft. Hinschauen tut not.

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Mehr zum Thema: Die TagesWoche hat mit Rosmarie Hubschmid, Leiterin des Frauenhauses Basel, über den Umgang mit häuslicher Gewalt in der Region, Paarberatungen und das Modell eines sichtbaren Frauenhauses gesprochen – das Interview
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