Freunde und das erste Spiel gewonnen

Die Surprise Nationalmannschaft spielt im polnischen Posen mit 49 Nationen um den 11. Homeless World Cup. Nach schwerer Startgruppe konnten die Schweizer Strassenfussballer gegen Schweden endlich den ersten Sieg feiern. Nun beginnt das Turnier für die Eidgenossen.

(Bild: zVg)

Die Surprise Nationalmannschaft spielt im polnischen Posen mit 49 Nationen um den 11. Homeless World Cup. Nach schwerer Startgruppe konnten die Schweizer Strassenfussballer gegen Schweden endlich den ersten Sieg feiern. Nun beginnt das Turnier für die Eidgenossen.

Stürmer Mario Stöckli reckt die Arme in die Höhe. Er jubelt. «So fühlt es sich noch besser an!» Mit zwei Toren kurz vor Schluss hat die Schweiz das Spiel gegen Schweden gedreht und 7:6 gewonnen. Es ist der erste Sieg der Strassensport-Nationalmannschaft am Homeless World Cup (HWC).

Dass es ein Freundschaftsspiel war, schmälert den Erfolg nicht. Alle Spiele der Obdachlosen-Weltmeisterschaft werden in herzlicher Atmosphäre ausgetragen. Das heisst aber nicht, dass auf dem Platz Geschenke gemacht werden. Trotzdem ist hier der FIFA Slogan «For the Good of the Game» mehr als bloss eine Worthülse. Wer hier spielt, hat Abseits des Spielfelds genug Ungutes durchlebt.

Stöckli etwa lebte über ein Jahr auf der Strasse, rannte dort nur Heroin und Koks hinterher. Weitere Spieler in der Schweizer Auswahl haben einen ähnlichen Drogenhintergrund wie der 28-jährige Luzerner. Der 47-Jährige Teamsenior und 2. Goalie Cesare Lanz kämpft über 25 Jahre mit seiner Sucht. Um nicht mehr dem Heroin und Alkohol zu verfallen, konsumiert der Basler starke Medikamente. «Gäbe es etwas gegen Kokain», sagt Land, «würde ich auch das versuchen.» Vernarbte Kratzspuren auf seinen Armen zeugen vom letzten Rückfall. «Daheim falle ich aus Langeweile immer wieder in ein Loch und rufe meinen Dealer an. Seit ich Sport treibe, rapple ich mich aber wieder auf und hier habe ich noch gar nicht daran gedacht.»

Dabei wäre das Frustpotential für ihn in den ersten Turniertagen ziemlich hoch. Die Schweizer haben alle fünf Spiele der ersten Gruppenphase verloren. Nach der 3:8 Startniederlage gegen Dänemark liess die Mannschaft die Köpfe hängen (das Spiel ist im folgenden Video zu sehen, das Spiel gegen Nordirland auf Youtube). Frisch aus dem Trainingslager angereist, hatten sich die acht Spieler, sechs davon aus der Region Basel, doch einiges an Chancen ausgerechnet.

 

Die emotionale Startparade, bei der man erstmals auf die anderen 48 telinehmenden Nationen traf und, landesspezifische Parolen skandierend, durch Posen bis zum HWC Austragungsort am Lake Malta lief, schürte die Euphorie. «Das war ein erhebender Moment», schwärmt Lanz, der die Eidgenossen als Fahnenträger anführte.

Schweiz geht baden – nicht nur auf dem Feld

Ihn – dem das Team den Kosenamen «Zen-Master» verpasst hat – brachte die Startniederlage am wenigsten aus der Ruhe. Dem anderen Basler Goalie, Salvi Castelli, der als Nummer 1 im Tor stand, platzte nach Spielschluss der Kragen. Das Team raufte sich aber wieder zusammen. Jede weitere Niederlage förderte gar den Teamgeist.

Dennoch waren alle froh, als das letzte Spiel der ersten Gruppenphase anstand. England war der Gegner und die Schweiz alles andere als chancenlos. Ja, Chancen hatte das Team gar mehr als genug. Doch traf man hin und wieder nicht die Torumrandung und die Schweiz ging 1:4 baden.

Stöckli und zwei Teamkameraden gar wortwörtlich: Nach Spielschluss sprangen sie trotz Nieselregen in den gleich hinter der Spielstätte liegenden See. «Solange wir alles geben, können wir immer mit erhobenen Haupt vom Platz. Und wenn wir weiter so spielen, wird unsere Zeit schon kommen!», prophezeite Stöckli abends an der Teamsitzung.

Nach der ersten Gruppenphase wird es einfacher

Dass er schon am nächsten Tag recht behalten sollte, war hart erspielt. Nach gutem Start gaben die Schweizer eine 3:0 Führung her. Aber im torreichen Street Soccer ist ein drei Tore Vorsprung kein beruhigendes Polster. Nach dem Ausgleich der Schweden wogte das Spiel hin und her. Bis zu den letzten zwei Toren kurz vor Ablauf der zweimal sieben Minuten, lagen die Schweizer im kritischsten Moment gar hinten. So spannend und ausgeglichen sollten die nächsten Spiele der Schweizer bis zum Turnierabschluss werden.

Auch bei der 10. Homeless World Cup Teilnahme der Surprise Strassensport Nationalmannschaft wird die Zeit der hohen Niederlagen nach der ersten Gruppenphase erfahrungsgemäss vorbei sein. Am Anfang des Turniers treffen alle Mannschaften aufeinander. Das sportliche Level der Teams ist dabei so unterschiedlich wie die sozialen Umstände in deren Herkunftsländer.

Die Strassenfussball Projekte Mittel- und Südamerikas schöpfen dabei aus einem riesigen Spieler-Pool. Fussballspielende Kinder und Jugendliche in den Favelas geben zwar wunderbare Urlaubsfotos ab. Ihre Leben sind jedoch nicht von der Freude geprägt, die sie beim Spiel ausstrahlen. Die sozialen Fussballprojekte bieten für viele eine echte Chance auf ein besseres Leben. Ein paar Spieler haben über den Strassensport und HWC gar den Sprung ins Profi-Fussball-Geschäft geschafft, andere immerhin einen sozialen Aufstieg und bekommen eine Zukunftsperspektive. Denn nebst dem Training mit dem Ball erhalten die Strassenkinder auch Schulbildung und ein Zuhause.

Würde nur das Geld nicht fehlen

Mexico hat, unterstützt von Multimilliardär Carlos Slim, die weltweit grösste Liga mit 18’000 Spielerinnen und Spielern aufgebaut. Andere Projekte kämpfen jedoch mit den Finanzen. Dauerfavorit Brasilien, das beim Heim-HWC 2010 sowohl bei den Männern wie den Frauen Weltmeister wurde, ist aus Geldnot nur mit drei Feldspielern und einem Goalie, dem Mindestbestand eines Street Soccer Teams, nach Polen gereist.

Da der Homeless World Cup 2003 von Internationalen Verband der Strassenmagazine gegründet wurde, werden viele Projekte noch heute von den nationalen Strassenmagazinen betrieben. So auch in der Schweiz, wo der Verein Surprise schon beim ersten HWC eine Mannschaft stellte und seit 2008 eine Strassensport Liga organisiert (mehr dazu im folgenden Video), in der mittlerweile 18 Teams spielen. Einige der Schweizer Spieler haben zwar wie Stöckli auch schon auf der Strasse gelebt. Die meisten haben aber ein Dach über dem Kopf. Sei es eine Sozialwohnung, im Asylzentrum oder ein Zimmer in einer betreuten Wohnstätte für Menschen, die «mental etwas anders ticken».

Ähnlich organisiert sind auch die Fussball basierten sozialen Reintegrationsprojekte anderer Wohlstandsnationen und dementsprechend ist auch ihr Fussball-Level relativ hoch. Nach dem Freundschaftsspiel gegen Schweden trafen die Schweizer in der zweiten Gruppenphase des HWC bisher auf Norwegen und die Slum-Kicker aus Indien. Im Verlaufe des Freitags spielen sie gegen die USA und Belgien. Die vier Teams gehören zur unteren Tableau-Hälfte der 48 Männermannschaften, dennoch gelangte der Schweiz bisher nicht der zweiter Sieg. Aber was nicht ist, kann noch werden. So oder so spielt die Auswahl am Wochenende weiter um einen der sechs Cups an der HWC – nur noch ausstehendend ist um welchen.

Einfach nicht Letzter werden

«Ich will einfach nicht Letzter werden», definiert Lanz seine sportlichen Ambitionen. Die Chancen dafür stehen sehr gut. Denn die Schweiz weiss, wo ihre Stärke liegt: «Fussballerisch sind wir zwar nicht alle super, aber das machen wir mit grossem Teamgeist wett!», sagt Lanz. Wichtiger als die Schlussrangierung ist für die Spieler sowieso das Erlebnis HWC. «Aus meiner Junkiezeit habe ich praktisch keine Erinnerungen», sagt Lanz, «obwohl ich in den letzten zwölf Jahren im Programm Janus mit täglich zwei Gratisschüssen eigentlich paradiesische Fixer-Zustände genoss. Aber was ich hier schon an positiven Erlebnissen hatte, wird mir bei meinem Neuanfang ewig bleiben.»

(Bild: zVg)

Auch Mario (im Bild), der einst ein Angebot der U-17 des FC Luzerns zugunsten einer Kochlehrstelle ausschlug und der beste Fussballer im Team ist, stellt die sportlichen Ambitionen hinten an. «Ich fühle mich geehrt und stolz, ein Aufgebot für die Nati erhalten zu haben und nun hier zu sein.» Als er 2011 sein erstes Strassensport-Turnier spielte, sei er «noch drauf gewesen». In den vergangenen zwei Saisons hat er die tägliche Dosis von 70 Milligramm Methadon kontinuierlich runtergeschraubt. «Und bald bin ich schon eineinhalb Jahre lang clean. Der HWC ist für mich der krönende Abschluss als Strassensport-Spieler. Und wieder daheim hoffe ich, dass es mit der Lehre als Möbelschreiner klappt.»

Mehr Infos zur Schweizer Auswahl am HWC auf der Facebook-Seite des Teams.

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