Ein buddhistischer Priester lebt für fünf Tage mit Gleichgesinnten auf der Strasse. Ohne Geld und Dach über dem Kopf sucht die Gruppe Einfachheit und neue Erfahrungen.
Neben einer Yoga-Gruppe und jungen Leuten, die grillieren und Kubb spielen, sitzt eine Handvoll Leute auf zusammengefalteten Kartonschachteln. Einige Spaziergänger blicken irritiert zu dem Kreis hinüber. Ein Mann mit einem kahl geschorenen Kopf rezitiert buddhistische Verse, vereinzelte Mitglieder der Gruppe klopfen Steine aneinander oder schlagen sanft mit einem Steinchen auf eine Bierflasche. Der kahl geschorene Mann erhebt sich, macht Schritte nach links, Schritte nach rechts und geht nach vorne. Vor einem Baum verneigt er sich.
Diese ungewohnte Szene ereignete sich diese Woche im Rahmen eines sogenannten Strassen-Retreats. Der buddhistische Priester Claude AnShin Thomas aus den USA führte dieses Projekt zum ersten Mal in Basel durch. Ziel des Retreats ist es, zu sich selbst zu kommen und neue Erfahrungen zu sammeln, möglicherweise sich von den verfestigten Vorstellungen des Lebens zu lösen – ein Leben mit wenig, zumindest temporär. Dazu verbringen die Teilnehmer unterschiedlicher Nationalitäten fünf Tage auf der Strasse. Mitgenommen werden nur die Kleider am eigenen Körper und ein Ausweis. Jedoch hatte ein Teilnehmer auch ein Blutzuckermessgerät dabei.
«Wir betteln für alles und sind so auf die Grosszügigkeit der Gesellschaft angewiesen», erzählt der Priester. Wenn die Gruppe Glück hat, bekommt sie Decken und Schlafsäcke. Bei diesem Retreat mussten mehrere Hotels abklappert werden, um Decken zu bekommen. Diese sind laut der Teilnehmerin Nathalie auch dringend nötig: «In der Nacht ist es bitterkalt.»
Remo Uherek (rotes T-Shirt) hat den Basler Retreat organisiert. (Bild: Brendan Bühler)
Um mitmachen zu können, mussten die Teilnehmer im Voraus 1080 Franken sammeln. Laut Thomas werden die Teilnehmer darauf vorbereitet, nach Grosszügigkeit bekannter und fremder Menschen zu suchen. Nicht für alle war das leicht. Nathalie bringt es so auf den Punkt: «Für mich war es unglaublich spannend. Es war keine technische Angelegenheit, wie ich zuerst dachte. Es war eher emotional. Ich musste viel von mir preisgeben, beispielsweise meinem Nachbarn. Ohne das Sammeln hätte ich mich vielen Menschen gegenüber nicht so geöffnet.» Was mit dem gesammelten Gesamtbetrag geschehen wird, entscheiden die Teilnehmer am Ende der fünf Tage Obdachlosigkeit. Oft wird das Geld einer gemeinnützigen Organisation gespendet.
Die Teilnehmer bei diesem Retreat kommen aus Bielefeld, Leverkusen, einer kommt aus Turin und einer aus Basel. Der Basler Remo Uherek hatte den Retreat auch organisiert. Zusätzlich zum Geldsammeln bereiten sich die Teilnehmer durch einen Wasch- und Zähneputzverzicht auf das Leben auf der Strasse vor.
Die selbstgewählte Obdachlosigkeit hat einen buddhistischen Rahmen. Die Teilnehmer sind alle in verschiedenen Meditationsgruppen und haben sich mit dem Buddhismus auseinandergesetzt. Morgens, sobald die Sonne aufgeht, stehen die Obdachlosen auf Zeit auf. Es wird meditiert, gefrühstückt und danach folgt die morgendliche Bettelrunde.
Vom Vietnamkrieg zum Buddhismus
Mittags trifft man sich, es wird wieder meditiert. Nach einem Mittagsschlaf teilt sich die Gruppe nochmals auf, es wird wieder nach Essen gefragt. Um sieben Uhr abends versammelt sich die Gruppe wieder um ihren Leiter Claude AnShin Thomas. Nach der Meditation folgt das Abendbrot, bevor sich die Guppe auf die Suche nach einem Schlafplatz macht. Der Manager Esho aus Bielefeld, der bereits seinen zweiten Retreat besucht, erzählt lachend, wie sich die Gruppe in der Nacht wie Pinguine aneinanderdrängt, um warm zu haben.
Claude AnShin Thomas mit Jahrgang 1947 ist ein buddhistischer Priester, der nach dem japanischen Soto-Zen-Buddhismus lebt. Mit 18 Jahren meldete er sich freiwillig für den Krieg in Vietnam. Nach den Erlebnissen des Krieges wandte er sich dem Buddhismus zu. Der Priester lebte für einige Jahre auf der Strasse.
«Eigentlich bin ich jetzt noch obdachlos. Ich habe kein Zuhause, aber das Glück, dass ich Unterstützer habe. Die nehmen mich dann auf.» Aber eigentlich brauche er nicht viel. Einmal am Tag etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf reichen ihm vollkommen. Durch seine eigenen Erfahrungen kam ihm auch die Idee mit dem Strassen-Retreat. Doch seine Priestergarderobe lässt er während den fünf Tagen zuhause: «Die Leute würden mich sonst anders behandeln. Das will ich nicht!»
Der buddhistische Priester Claude AnShin Thomas, hier im Priestergewand. (Bild: Brendan Bühler)
Bereits im Vorfeld wurde Kritik an der Aktion geäussert. Gegenüber der Basler Tageszeitung «bz Basel» verurteilte der Gassenarbeiter und Co-Geschäftsleiter des Basler Vereins für Gassenarbeit «Schwarzer Peter», Michel Steiner, die Aktion. Für ihn sei der Retreat unethisch, da die Teilnehmer mit den «richtigen» Obdachlosen konkurrieren würden.
Darauf erwidert Katharina, Mutter zweier Kinder: «Ich kann es nicht rechtfertigen. Aber das Essen teilen wir auch gerne mit Fremden, und die Decken geben wir am Ende weiter.» Dem pflichtet auch Claude AnShin Thomas bei: «Wir gehen nicht an Orte, wo Obdachlose sind. Ausserdem wird durch unsere Aktion das Thema Obdachlosigkeit präsenter als sonst. Das ist doch gut.» Auch durch das direkte Fragen in Läden macht die Gruppe, wie sie findet, den «richtigen» Obdachlosen keine Konkurrenz.
Lieber Kartoffelsalat als Brot
Die Gesichter im St. Johannspark sehen müde, aber zufrieden aus. Essen bekommen sie genug und alle sind über die Grosszügigkeit überrascht. Ins Schwärmen kommt Nathalie, als sie von einem Erlebnis am ersten Tag erzählt: «Wir gingen in einen Laden und fragten nach Essen. Nachdem wir erklärt hatten, dass wir zur Zeit auf der Strasse leben, machte uns die Frau gleich drei frische Pizzen.» Laut dem Initiator Remo Uherek sind die meisten Menschen sehr grosszügig, insbesondere in kleinen Quartierläden würden sie oft etwas bekommen. Es wurde sogar eine Brille gratis repariert, wie die Teilnehmer freudig erzählen.
Ob sich ihr Verhalten längerfristig ändern wird, ist schwer zu sagen. Nathalie könnte sich vorstellen, Obdachlosen Essen zu bringen. Katharina gab vorher bereits gerne, aber nach dem Retreat noch viel mehr. Und Remo weiss jetzt, welche Nahrungsmittel besser geeignet sind: «Oft gibt man ja Brot. Aber zu viel Brot ist nicht wirklich gut für den Magen. Wenn ich das nächste Mal einer obdachlosen Person etwas gebe, dann eher Früchte oder einen Kartoffelsalat.» Dass das obdachlose Leben einen längerfristigen Effekt hat, davon ist Claude AnShin Thomas überzeugt.
Die Gruppe packt ihr gesammeltes Essen aus – Falafel, abgepackte Sandwiches, Joghurtdrinks und mehr. Jeder nimmt einen Biss und reicht das Essen dann weiter. Bald schon werden sie wieder aufbrechen, den Abfall einsammeln, ihre Kartonschachtel-Matratzen aufheben und sich einen ruhigen und geschützten Ort zum Schlafen suchen.
Das gesammelte Geld wird unter anderem den wohltätigen Organisationen Schwarzer Peter und der Anlaufstelle für Sans-Papier übergeben.
Artikelgeschichte
Ursprünglich stand im Artikel 1008.- Franken bezüglich der Teilnahmegebühr, tatsächlich waren es 1080.- Franken. Angepasst am 15. September 2014.