Der Bund verschickt in einigen Wochen Jodtabletten an die Bevölkerung – zum Schutz vor einem möglichen Reaktorunfall. Gesundheitsexperte Alfred Weidmann erklärt, weshalb die Jodtabletten nur ein Teilproblem lösen.
Er wohnt in unmittelbarer Nähe zur Gemeinde Benken, wo ein Atommüll-Tiefenlager entstehen soll. Alfred Weidmann ist Allgemeinmediziner und engagiert im Bereich Radioaktivität. Mit dem Verein Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz setzt er sich seit Jahren gegen Atomenergie ein.
Der Bund verteilt Jodtabletten zum Schutz der Bevölkerung bei einem Atomunfall. Finden Sie das sinnvoll oder ist es ein Beruhigungsmittel?
Es ist gut gemeint, aber Jodtabletten lösen im Ernstfall nur ein Teilproblem. Jodtabletten sind praktisch das einzige Mittel, das man nach einem Unfall mit radioaktiven Stoffen hat. Sie schützen aber nur die Schilddrüse. Gegen die Strahlung aller anderen radioaktiven Stoffe gibt es kein Mittel, es bleibt nur die Flucht. Wenn in der Schweiz ein ähnliches Unglück wie in Fukushima 2011 auftritt, dann bricht erst einmal ein riesiges Desaster aus – Jodtabletten wären da nur ein Trostpflaster.
Also eher Beruhigungspillen.
Es ist sinnvoll, Kaliumiodid-Tabletten zu verteilen. Sie schützen den Körper im Ernstfall vor der Aufnahme von Radiojod, das Schilddrüsenkrebs auslösen kann. Das Problem ist nur, dass die Tabletten vor der Exposition mit Radiojod eingenommen werden müssen. Stadtberner hätten bei einer Freisetzung in Mühleberg je nach Windrichtung eine Stunde Zeit. Es muss also erstens schnell informiert werden, was in vielen Fällen von Reaktorunfällen in der Vergangenheit nicht der Fall war – in Tschernobyl hat es Tage gedauert, bis die Bevölkerung informiert wurde. Und zweitens müssen die Tabletten immer griffbereit sein. Woher bekommt jemand die Tabletten, wenn ein Unfall tagsüber auftritt und er sich am Arbeitsplatz aufhält? Die Tabletten liegen dann wohl zuhause in der Schublade.
«Für einen Fall wie Fukushima oder Tschernobyl ist die Schweiz überhaupt nicht vorbereitet.»
Also müsste jeder die Tabletten immer mit sich herumtragen.
Das wäre zumindest für die rechtzeitige Einnahme eine Lösung. Ein weiteres Problem ist jedoch, dass die Jodeinnahme für gewisse Menschen ein gesundheitliches Risiko bedeutet. Die Packungsbeilage zu den Kaliumjodid-Tabletten verweist Leute mit Jodunverträglichkeit an den Hausarzt. Dieser wird nur einen Rat geben können: Wegziehen in ein sicheres Gebiet und nur unbelastete Lebensmittel einnehmen.
Was bräuchte es denn für einen effektiven Schutz im Worst-Case-Szenario?
Für einen Fall wie Fukushima oder Tschernobyl ist die Schweiz überhaupt nicht vorbereitet. Im Bunker einschliessen und Jodtabletten einnehmen, so wie es der Katastrophenschutz vorsieht, reicht da nicht aus. Stellen Sie sich vor, im Atomkraftwerk Mühleberg tritt eine Kernschmelze ein. Die Bevölkerung, einschliesslich der Stadt Bern, müsste evakuiert werden, das Krisenzentrum des Bundes wäre also unter Umständen nicht mehr einsatzfähig, es entstünden grosse Fluchtbewegungen – in einem Wort: ein Riesenchaos. Was ist mit den medizinischen Diensten? Sind dann noch Ärzte da, die behandeln können? Unser Gesundheitssystem wäre rasch überfordert, das Einnehmen von Jodtabletten wäre in diesem Fall nicht die grösste Sorge.
Gibt es also keinen Schutz bei einem schweren Reaktorunglück?
Der einzige Schutz heisst: abschalten. Ich kann schwer verstehen, dass bei der Diskussion um die Atommüll-Lagerung die Sicherheit oberstes Leitprinzip ist, mit dem Weiterbetrieb von Uraltreaktoren die Schweiz jedoch dem Risiko eines Atomunfalls mit grossräumiger Unbewohnbarkeit ausgesetzt bleibt. Der Umgang mit der Sicherheit der Atomkraftwerken ist in der Schweiz völlig unzureichend. Beznau ist das älteste laufende Kernkraftwerk auf der Welt. Im Kraftwerk in Leibstadt blieben Löcher in der Reaktorhülle über Jahre unbemerkt. Mit dem Verein Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz setze ich mich für den Atomausstieg ein. Die einzige sichere Lösung heisst für mich: Atomreaktoren vom Netz nehmen und Umstieg auf erneuerbare Energien vorantreiben.