Wissenschaftler warnen, aber keiner greift ein: Die Ruine des AKWs Fukushima ist im wörtlichen Sinne eine Atom-Zeitbombe.
In der Nacht von Freitag auf Samstag wurde Japan erneut von einem Erdbeben überrascht, mit dem Epizentrum nicht allzu weit von der Reaktor-Ruine Fukushima entfernt. Seine Stärke betrug 7.1 (bzw. 7.3 gemäss US-Messungen) auf der nach oben offenen Richter-Skala. Das Beben am 11. März 2011, das zu einer Tsunami-Katastrophe und zur fast vollständigen Zerstörung des Atomkraftwerkes von Fukushima geführt hat, hatte die Stärke 9 und war eines der stärksten Erdbeben in jener Region seit Beginn der Messungen überhaupt.
Alles im grünen Bereich also? Mitnichten! Im Gegenteil sogar: Etliche gravierende Probleme der AKW-Ruine in Fukushima sind noch überhaupt nicht gelöst und können nur knapp unter Kontrolle gehalten werden. Wäre das jetzige Erdbeben auch nur ein wenig stärker ausgefallen, es hätte eine neue Katastrophe auslösen können mit nicht nur lokalen und regionalen, sondern weltweiten und irreparablen Schäden.
Enorme Gefahr aus den Abklingbecken
In einem Bericht der Offenen Akademie Deutschland werden die drohenden Gefahren – wissenschaftlich präzise – wie folgt aufgezeichnet:
«In den Medien wird nur noch selten von der Atomruine Fukushima berichtet und es wird das Bild vermittelt, das Schlimmste sei überstanden. In Wirklichkeit zeichnet sich eine enorme Gefahr ab, die gar das 85-fache des Ausmasses der Atomkatastrophe von Tschernobyl annehmen kann. Sie geht von den Abklingbecken aus.
Abklingbecken als Lager für verbrauchte Brennelemente finden sich typisch bei Atomkraftwerken. Angesichts fehlender Endlager werden sie als Zwischenlager für verbrauchte Brennelemente verwendet. Das ist in Deutschland genauso wie in Japan und den USA.
Im Gelände des AKW Fukushima lagern mehr als 11’000 verbrauchte Brennelemente. Aufgrund ihrer Wärmeabgabe müssen sie vier bis fünf Jahre im Abklingbecken gekühlt werden, denn der Nachzerfall der Spaltprodukte setzt Wärme frei. In Fukushima lagern aber bis zu 15 Jahre alte Brennelemente, denn Endlager werden noch nirgends auf der Erde beherrscht. Zusätzlich wurden auch noch neue, zum Einbau vorgesehene Elemente dort gelagert. In den Abklingbecken der havarierten Reaktoren 1 bis 4 befinden sich zur Zeit:
- Block 1: 292 verbrauchte und 100 neue Elemente
- Block 2: 587 verbrauchte und 28 neue Elemente
- Block 3: 517 verbrauchte und 52 neue Elemente
- Block 4: 1331 verbauchte und 204 neue Elemente
- Sammelabklingbecken: 6375 verbrauchte Elemente
Allein im Abklingbecken von Reaktor 4 beträgt die Nachzerfallswärme derzeit rund 580 kW. Die Abklingbecken befinden sich in 30 Metern Höhe in den oberen Etagen (!) der Reaktorgebäude, die durch das Erdbeben vom 11. März 2011, den Tsunami und mehrere Explosionen schwer beschädigt wurden.
Der Zustand ist sehr gefährlich. In Block 3 ist der darüber befindliche Kran in das Abklingbecken gestürzt. Die Reaktoren 1 bis 4 sind Ruinen. Die Kühlung wird notdürftig aufrechterhalten. Lagervorrichtungen für Brennelemente befinden sich «in einem Zustand des Verfalls» und liegen in Bereichen, die sie «für kommende seismische Ereignisse verwundbar machen».
Tepco bestätigt Risse, erklärt aber: «Die maximal gemessene Rissbreite betrug 0,3 Millimeter und die festgestellten kleinen Risse sollten keine wesentliche Auswirkung auf die Stabilität des Gebäudes haben.» Meldungen, das Gebäude habe sich durch Unterspülung bereits geneigt, werden von Tepco bestritten.
Am 8.12.2012 fiel die Pumpe des Abklingbeckens in Block 4 aus. Im März 2013 kam es über 2 Tage zum Ausfall des Kühlsystems der Abklingbecken bei Block 1, 3 und 4. Am Freitag 5.4.2013 fiel diese Kühlung bei Block 3 über drei Stunden aus.
Bei längerem Ausfall der Kühlung und Verdampfen des Kühlwassers werden sich die dort gelagerten Brennelemente übermässig erhitzen. Bei ca. 800 °C wird die Zirconium-Legierung der Hüllrohre der Brennelemente (Zircaloy) mit Wasserdampf zu Zirconiumoxid und Wasserstoff reagieren und sich in kurzer Zeit ein explosives Knallgasgemisch bilden. Trockene Brennstäbe können in Brand geraten, es wird eine enorme Menge an Radioaktivität freigesetzt. Die in den verbrauchten Brennelementen vorhandenen Spalt- und Brutprodukte werden freigesetzt. Nach Lars-Olov Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Forsmark-Atomkraftwerke des Vattenfall-Konzerns war, kann es sogar zum Einsetzen einer «unkontrollierten Kettenreaktion» kommen.
85-mal Tschernobyl!
Robert Alvarez, ehemals politischer Berater des Ressortleiters und Vize-Ressortleiters für nationale Sicherheit und Umwelt beim US-Energieministerium, zeigt die Gefahr auf: Die gesamten im Komplex Fukushima gelagerten Brennelemente «enthalten ungefähr 327 Millionen Curie langlebiger Radioaktivität, davon circa 132 Millionen Curie Cäsium-137, was fast 85 mal der Menge, die Schätzungen zufolge in Tschernobyl frei wurde, entspricht.» Und weiter: «Die höchste Priorität ist die Sicherung des Inhalts von Abklingbecken 4. Dieses wurde strukturell beschädigt und enthält ungefähr die zehnfache Menge des in Tschernobyl freigesetzten Cäsium-137.»
Soweit der wissenschaftliche Zwischenbericht.
Der Bericht enthält aber auch eine Warnung aus japanischer Quelle: «Auch Mitsuhei Murata, ehemaliger japanische Botschafter in der Schweiz, fürchtet dramatische Schäden bei einem weiteren Erdbeben, dem die Ruine nicht standhält. «Botschafter Mitsuhei wies zunächst eindringlich darauf hin, dass durch ein Kollabieren des Reaktorgebäudes 4, in dem sich 1.535 Brennelemente 100 Fuss (30 Meter) über dem Boden befinden, nicht nur die Kontrolle über alle sechs Reaktoren verloren gehen würde, sondern auch das nur 50 m entfernt liegende allgemeine Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente bedroht wäre. Darin befinden sich 6.375 Brennelemente. In beiden Fällen werden die radioaktiven Brennelemente nicht durch ein Containment geschützt, sie liegen äusserst gefährdet unter freiem Himmel. All diese Umstände können mit Sicherheit zu einer globalen Katastrophe führen, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Der Botschafter wies auf die unbeschreibliche Verantwortung Japans in Hinblick auf die ganze Welt hin. Eine solche Katastrophe hätte uns für Jahrhunderte im Griff.»
Japan ist total überfordert
Dass der japanische Energiekonzern Tepco die Gefahren vor und nach dem Beben vollkommen falsch eingeschätzt hat, ist mittlerweile bekannt. Aber auch der Staat Japan, der sich zwischenzeitlich eingeschaltet hat, ist überfordert. Die in Fukushima aufgetretenen Probleme sind weltweit gänzlich neu, niemand hat Erfahrung, wie damit umzugehen ist.
Was dringend erforderlich ist, ist eine internationale Task Force aus den besten Wissenschaflern der Welt, unabhängig von deren staatlicher, politischer oder wirtschaftlicher Zugehörigkeit und unabhängig von den Kosten. Denn sollte es tatsächlich zu einem neuen, auch nur wenig stärkeren Erdbeben kommen als das gestrige, ist die Katastrophe eine totale – nicht nur für Japan, nicht nur für Asien, auch für Amerika und Europa. Das gegenwärtige internationale Zuschauen und Abwarten ist deshalb in jeder Hinsicht höchst unverantwortlich!
Quelle: Infosperber.