«Fuocoammare»: Sehhilfe für ein seekrankes Europa

Im Februar gewann «Fuocoammare» als erst zweiter Dokumentarfilm überhaupt den «Goldenen Bären» an der Berlinale. Der Film zeigt ein eindringliches Porträt über die Mittelmeerinsel Lampedusa – und stellt Europas Blick auf die Flüchtlingskrise infrage.

Im Februar gewann «Fuocoammare» als erst zweiter Dokumentarfilm überhaupt den «Goldenen Bären» an der Berlinale. Der Film zeigt ein eindringliches Porträt über die Mittelmeerinsel Lampedusa – und stellt Europas Blick auf die Flüchtlingskrise infrage.

Der 12-jährige Samuele sitzt leicht zerknautscht auf einer Liege beim Augenarzt und buchstabiert: D – A – C – F – R. «Und jetzt mit dem linken Auge». Samuele kneift die Augen leicht zusammen, «geht nicht. Ich seh nichts.»

«Du hast ein träges Auge», sagt der Augenarzt zu ihm, ob er wisse, was das bedeutet. Samuele schüttelt den Kopf. «Das heisst, dass dein Gehirn nicht alle Sehinfomationen aufnimmt. Wir müssen es dazu zwingen, auch das rechte Auge zu benutzen.» Ab sofort benutzt Samuele eine Spezialbrille, wenn er Steine schleudern geht. Das linke Auge ist abgedeckt, damit das rechte sehen lernt.

Es sind Szenen wie diese, die den Dokumentarfilm «Fuocoammare» des italienischen Regisseurs Gianfranco Rosi zu einem der bedeutendsten künstlerischen Beiträge zur Flüchtlingskrise machen. Aber schön der Reihe nach, erst einmal sitzt da nur dieser Junge mit Sehschwäche in einer kargen Praxis auf Lampedusa.

Zwei Schicksalsgemeinschaften

«Fuocoammare», zu Deutsch «brennendes Meer» oder auch «Leuchtturm», ist der Titel eines italienischen Liedes. Der Radiomoderator spielt es manchmal auf Wunsch einer Anruferin – auf dass das Wetter besser werde und die Fischer endlich rausfahren können. Die Inselbevölkerung Lampedusas bewegt sich auch im 21. Jahrhundert noch innerhalb überschaubarer Koordinaten: kochen, fischen, beten. Mehr ist nicht, vor allem im Winter. Dann vermag auch das «Fuocoammare» der Radiostation die trübe Stimmung nur kurz zu vertreiben, bis zu den nächsten Nachrichten nämlich:

«Von den 450 Flüchtlingen, die gestern von der Küstenwache aufgegriffen wurden, konnten 40 nur noch tot geborgen werden.» – «Arme Teufel» murmelt die Nonna. Und schneidet weiter an ihrem Gemüse.

«Als ich in Lampedusa lebte, verstand ich, dass der Begriff Katastophe bedeutungslos war. Es gab jeden Tag eine Katastrophe.»

Gianfranco Rosi, Regisseur

Zwölf Monate hat Rosi für seinen Dokumentarfilm auf Lampedusa verbracht, das ursprüngliche Projekt, einen Kurzfilm zu drehen, hatte er rasch wieder verworfen: «Mir wurde bewusst, dass es unmöglich sein würde, ein so komplexes Gefüge wie das von Lampedusa in wenige Minuten zu pressen.» Von diesem «komplexen Gefüge» ist oberflächlich betrachtet auch in 108 Minuten nicht viel zu sehen. Denn der Regisseur beobachtet zwei Schicksalsgemeinschaften – Inselbewohner und Flüchtlinge –, die sich zwar sehr nahe kommen, aber ausser durch das unsichtbare Band der Radiowellen zur vollen Stunde nie miteinander verknüpft werden.

Zum einen ist da Samuele, der mit seiner Steinschleuder lieber einäugig durch den Busch zieht, als mit seinem Vater fischen zu gehen. Auf hoher See wird ihm so schlecht, dass ihm sein Vater rät, erst mal auf dem schwankenden Bootssteg zu bleiben, um seinen Magen abzuhärten. Der Junge tut wie ihm geheissen und macht daraus ein Spiel – ob er ahnt, mit welchen Leiden die Boat-People wenige Kilometer vor der Küste zu kämpfen haben, bleibt unbeleuchtet.

Schwer erträgliche Bilder

Denn diese Menschen passieren Lampedusa durch eine Schleuse des europäischen Flüchlingssystems und damit abgeschottet von der Lebensrealität der Inselbewohner. Von den Booten werden die Flüchtlinge direkt in die Auffangstation und von dort aufs Festland gebracht, so wollen es die Vorschriften von Rettungsoperationen wie «Mare Nostrum».

Rosi begleitet mehrere solcher Bergungsaktionen, die immer nach dem selben Schema ablaufen: ein schwaches Knistern im Funkgerät, das Aufspüren der Boote, die Bergung der Menschen. Die Bilder, die «Fuocoammare» gegen Ende der Spielzeit in den Kinosaal wirft, sind schwer erträglich: Aber sie müssen gesehen werden. 

In diesem Kontext erwächst aus Samueles Sehschwäche eine Metapher auf das (fehlende) Sehvermögen der europäischen Öffentlichkeit. 

Europas Silberblick

Gianfranco Rosi blickt durch zwei Linsen auf das, was sich da an der Aussengrenze Europas abspielt. Hier der unschuldige Alltag eines Inselidylls, gleich daneben die angeschwemmten Flüchtlinge in ihren Nussschalen. Es ist dieser Silberblick, mit dem auch der Westen noch immer auf die Flüchtlingskrise schielt. Tag für Tag berichten die Medien in grellen Farben vom Elend an der Peripherie des Kontinents. Europa weiss ganz genau, was da geschieht. Aber die europäische Politik tut herzlich wenig dagegen.

Diesem Wegschaureflex will Rosi entgegenwirken. Er tut dies mit eindringlichen Bildern und reduziertem Ton, auf Kommentare verzichtet «Fuocoammare» ganz. Im Februar erhielt der Dokumentarfilm dafür den «Goldenen Bären» der Berlinale.

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«Fuocoammare» läuft im kult.kino camera.

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