Greenpeace setzt sich mit wagemutigen Aktionen für die Umwelt ein. Der Preis dafür kann hoch sein, wie das Beispiel des in Russland eingekerkerten Aktivisten Marco Weber zeigt.
Eiskaltes Wasser und Warnschüsse mit scharfer Munition mussten die Greenpeace-Aktivisten Mitte September in der Barent-See ertragen. Es war die erste Reaktion auf eine Protestaktion gegen Ölbohrungen an der russischen Plattform Priraslomnaja.
Der Schweizer Marco Weber war einer der Ersten, die verhaftet wurden. Zwar hat die russische Staatsanwaltschaft vergangene Woche den Vorwurf der Piraterie zurückgenommen, Weber drohen aber – wie den anderen Aktivisten – immer noch bis zu sieben Jahre Gefängnis unter härtesten Bedingungen. Der Vorwurf lautet neu auf «Hooliganismus». Aus dem edlen Öko-Krieger, wie Weber von den Greenpeace-Anhängern gefeiert wird, könnte ein russischer Lagerhäftling werden.
Teilerfolg für Greenpeace
Für Greenpeace dagegen war der Protest erfolgreich. Weltweit berichten die Medien über die hochriskanten Versuche von Gazprom in der Arktis. Allein in der Deutschschweiz sind seit der Aufbringung des Greenpeace-Schiffs «Arctic Sunrise» über 700 Artikel erschienen, die in explizitem Bezug zu Greenpeace und zur Arktis stehen.
Die Arktis hat damit eine einmalige Plattform erhalten. Und Greenpeace gibt sich weiter kämpferisch: «Das Ziel haben wir noch nicht erreicht», sagt Kampagnenleiter Christian Engeli. Greenpeace will ein Moratorium über die Ausbeutung der Bodenschätze in der Arktis erreichen.
«Die Suppe wird weniger heiss gegessen», sagt Nationalrat Geri Müller (Grüne)
Glaubt man den Einschätzungen des Aargauer Nationalrats Geri Müller (Grüne), dann hat Greenpeace-Aktivist Weber zumindest gute Chancen, milde abgeurteilt zu werden: «Die Suppe wird vermutlich weniger heiss gegessen, als sie gekocht wird.»
Der Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Russland geht davon aus, dass die harte Reaktion Russlands auch mit den anstehenden Olympischen Winterspielen in Sotschi zusammenhängt. «Russland ist von den Aktivisten überrascht worden. Das Land will bezüglich Sicherheit keine Schwäche zeigen.» Ausserdem gebe es inzwischen auch russische Parlamentarier, die das Bohren nach Öl in der Arktis kritisch beurteilen.
Die Schweiz setzt auf stille Diplomatie
Die russische Justiz suche vermutlich fieberhaft nach einem angemessenen «gesetzlichen Kleid» für die Greenpeace-Aktion. Dass Hooliganismus dafür ebenso wenig in Frage kommt wie Piraterie, scheint Müller klar. Aber: «Russland möchte das Gesicht nicht verlieren.» Das legt den Schluss nahe, dass ein Wegschauen der internationalen Gemeinschaft für die inhaftierten Aktivisten am besten wäre.
Müller, der selber Gespräche mit «Kollegen aus der Duma» führt, will sich aber nicht in die Karten blicken lassen. Er dementiert, mit Weber persönlich in Kontakt zu stehen – lässt aber durchblicken, dass er sich um sein Wohlergehen persönlich bemühe.
Auch das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) verhandelt, gibt sich aber wortkarg. Ein Vertreter des konsularischen Dienstes habe Weber im Gefängnis von Murmansk besuchen können. Zudem stehe man in Kontakt mit Angehörigen und Greenpeace sowie mit weiteren Staaten, die in den Vorfall verwickelt sind.
Das EDA äusserte zuletzt auch offiziell den Wunsch, dass die Gewaltlosigkeit der Aktion bei der Urteilsbemessung berücksichtigt werden möge. Weitere Informationen werden unter Verweis auf laufende Verhandlungen nicht gegeben. Das EDA setzt auf stille Diplomatie.
Hinterzimmer-Diplomatie ist oft erfolgreicher
Das Vorgehen der offiziellen Schweiz stösst auf breite Anerkennung. Sogar die sonst kritische Ratslinke verhält sich in Bern auffallend ruhig. Der Waadtländer Ständerat Luc Recordon (Grüne) äusserte gegenüber Radio SRF Verständnis für das Vorgehen.
Unzufrieden gibt sich nur Greenpeace. Weltweit werden Solidaritätskundgebungen und Unterschriftensammlungen organisiert. «Free the Arctic 30» lautet der Slogan, der auf den Bannern bei Protestaktionen eingesetzt wird – so etwa kürzlich bei der spektakulären Abseilaktion im Basler St.-Jakob-Park beim Fussballspiel zwischen dem FC Basel und Schalke.
«Ich hätte mir deutlichere Worte gewünscht», sagt Christian Engeli von Greenpeace.
Man schätze zwar das Engagement der schweizerischen Diplomatie, «aber ich hätte mir deutlichere Worte an die Adresse Russlands gewünscht», sagt Greenpeace-Kampagnenleiter Engeli – um im selben Atemzug einzuräumen, dass eine offizielle Protestnote der Schweiz «wohl nicht sehr ins Gewicht fallen würde».
Er würde wohl ähnlich agieren, wenn er bei Greenpeace wäre, sagt Geri Müller. Die Erfahrungen der Vergangenheit würden aber zeigen, dass die Hinterzimmer-Diplomatie in vergleichbaren Situationen oft erfolgreicher sei als das Winken mit der Moralkeule. Ausserdem dürfte es auch in der Greenpeace-Zentrale klar sein, dass die Schweizer Diplomatie ihre Möglichkeiten bestens einschätzen wisse.
Greenpeace in der Zwickmühle
Greenpeace steckt in einer Zwickmühle. Einerseits muss die Organisation die mediale Plattform nutzen, die sie für den Schutz der Arktis geschaffen hat. Denn sobald Marco Weber aus der Haft entlassen wird, verschwinden auch die Schlagzeilen. Andererseits fühlt sich Greenpeace verpflichtet, die inhaftierten Aktivisten nach Kräften zu unterstützen und baldmöglichst freizukriegen. «Wir lassen niemanden hängen», stellt Engeli klar.
Die Haftbedingungen Webers dürften derweil zumindest problematisch sein. «Ich hoffe sehr, dass Greenpeace für diese Aktion Leute ausgewählt hat, die mit dieser Situation klarkommen», sagt Geri Müller, der selber schon russische Haftanstalten besucht hat.
Weber und sein in der Öffentlichkeit auftretender Vater haben zwar stets betont, die Greenpeace-Aktion nach wie vor zu unterstützen. Letztlich wird auf dem Rücken von Marco Weber aber ein Eiertanz um diplomatische Erfolge und öffentliche Aufmerksamkeit ausgetragen.
Spektakel ist Teil des Konzepts
In diesem Licht stellt sich die Frage, ob die zwar spektakulären, aber letztlich auch gefährlichen und rechtlich oft fragwürdigen Aktionen zu rechtfertigen sind. «Natürlich», meint Engeli, «unsere Aktionen sind nie der Ausgangspunkt unserer Tätigkeiten. Einer Protestaktion gehen jahrelange Recherchen voraus.» Nur so gelinge es auch, Fakten zu liefern, die andere Organisationen aufgrund ihrer Möglichkeiten gar nicht liefern könnten.
Das Konzept von Greenpeace würde ohne spektakuläre Aktionen nicht funktionieren.
Dies ist wohl nur die halbe Wahrheit. Das Konzept von Greenpeace würde ohne die spektakulären Aktionen seiner Aktivisten gar nicht funktionieren.
Greenpeace stellt den Aktivisten keinen Arbeitsverträge aus. «Sie handeln aus Überzeugung», erklärt Christian Engeli. Damit setzt die Organisation ihre Aktivistinnen und Aktivisten einem erheblichen Risiko aus: Die Konsequenzen gescheiterter Aktionen tragen die Aktivisten alleine: Greenpeace kann und will dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Es bleibt das Versprechen der Organisation. «Wir bieten Hand, wenn jemand in grosse Schwierigkeiten kommt», sagt Engeli. Das könne «in Einzelfällen» bis zur Übernahme der Kosten gehen.
Weber büsst als Stellvertreter
Marco Weber bekommt derweil arktische Verhältnisse am eigenen Leibe zu spüren. Die deutsche Wochenzeitung «Zeit» will herausgefunden haben, dass die Zellen der Häftlinge in Russland ungeheizt sind. Und der Westschweizer Zeitung «Le Matin Dimanche» schrieb Weber nach seiner Verhaftung: «Seit zwölf Tagen sitze ich allein in einer Zelle ohne Sonnenlicht. Ich habe weder Bücher noch Zeitungen, TV oder jemanden zum Reden.» Zudem dürfte die Sprachbarriere ein Problem für den Untersuchungshäftling darstellen. Unlängst hat er einen neuen Dolmetscher beantragt.
Weber zahlt in Russland nicht nur einen hohen Preis für seine persönlichen Überzeugungen, er sitzt dort auch stellvertretend für die ganze Umweltorganisation ein, die wohl die harte Hand des russischen Staats unterschätzt hat. Dieser wiederum hat mit seiner heftigen Reaktion den Umweltanliegen von Greenpeace grosse Aufmerksamkeit verschafft und damit dem staatsnahen Gazprom-Konzern einen Bärendienst erwiesen.