Geh ins Kino und schau dir in die Augen, Mensch!

Wenn Zweibeiner Tiere auf der Leinwand beobachten, entdecken sie das seltsamste Wesen überhaupt: sich selbst. Drei neue Filme halten uns den Spiegel vor.

Wenn Zweibeiner Tiere auf der Leinwand beobachten, entdecken sie das seltsamste Wesen überhaupt: sich selbst. Drei neue Filme halten uns den Spiegel vor.

Wir lassen die Sau raus. Wir bezwingen den inneren Schweinehund, sind schlau wie ein Fuchs, fühlen uns wie ein Fisch im Wasser und machen das Chalb. 

Seit die Schlange den Menschen aus dem Paradies gemobbt hat und Romulus und Remus an den Zitzen einer Wölfin hingen, gehört das Tier zur Doppelnatur des Menschen als Triebwesen und Intelligenzbestie: Indem wir uns selektiv tierische Eigenschaften zuschreiben, versichern wir uns unserer Vernunft. Das macht selbstbewusst, aber auch ein bisschen einsam.

Im Kino sind Tiere deshalb immer wieder gern gesehene Bekannte, die uns daran erinnern, woher wir kommen und was aus uns geworden ist. Derzeit sind es gleich drei Filme, die sich mit dem Tier in uns beschäftigen: die Neuverfilmung des Dschungelbuchs, die feministische Selbstfindungsparabel «Wild» und das dystopische Liebesdrama «The Lobster».

Neues Alphatier

Zieht der Wolf in die Schweizer Alpen, weckt das bestenfalls gemischte Gefühle. Bio-Klappen-Städter mögen freudig Hallo rufen, aber in den betroffenen Gebieten erklingt eher das Halali: Nur einem milden Winter ist es zu verdanken, dass in Graubünden keine Jungwölfe geschossen wurden.

An der Spitze der Kinocharts hingegen dürfen sich die felligen Gesellen gerne tummeln: Auf Platz eins steht seit letztem Wochenende unangefochten ein neues Alphatier, die Neuauflage des Disney-Klassikers «The Jungle Book», in dem der Wolfsjunge Mowgli den Ruf der Zivilisation vernimmt – und ihm nicht folgen will.  

Das Dschungelbuch? Kennen wir schon in der grandios animierten Zeichentrickversion aus dem Jahr 1967 mit seinen Gassenhauern («Probiers mal mit Gemütlichkeit») und rassistischen Untertönen: Rudyard Kipling, von dem die Buchvorlage stammt, war ein strammer Herrenmensch im Dienste seiner britischen Majestät. Nicht von ungefähr liess Disney seinen Affenkönig Louie – sehr schwarz – davon singen, so sein zu wollen wie Mowgli.

Muss das sein?

Bei allen Bedenken und liebgewonnenen Kindheitserinnerungen stellt sich deshalb die Frage: Muss der Neuaufwasch sein? Die Antwort: Doch, das kann man gelten lassen. Regisseur Jon Favreau («Iron Man») hat den süsslichen Disney-Urwald von seinen Ziersträuchern befreit und die Handlung auf einen actiontauglichen Feuerlauf durch die Wildnis verknappt.

Der Menschenbub Mowgli möchte sich in seine tierische Adoptivfamilie integrieren, doch seine Geschicklichkeit im Umgang mit Werkzeugen und der «roten Blume», dem Feuer, macht ihn zum Aussenseiter. Bis der Menschenfresser Shere Khan auf den Plan tritt und die Geschichte ihren bekannten Gang nimmt, dies aber in atemlosem Tempo: Die dräuende Atmosphäre und die rasanten Verfolgungsjagden dürften allzu sensible Gemüter rasch abhängen – ein Kinderfilm sieht anders aus.

Bis auf den Menschenjungen sind alle Figuren computeranimiert, und das ist bei allem Realismus ein Widerspruch, der in diesem Film über den Verlust der kreatürlichen Unschuld ausgehalten werden muss: Das Kino wird zum digitalen Zoo, in dem die Begegnung mit der Wildnis nur noch simuliert ist. Die Vertreibung aus dem Paradies bleibt eben nur in der menschlichen Sehnsucht widerrufbar. 

 

Für ihr verstörendes Selbstermächtigungsmärchen «Wild» hat die deutsche Regisseurin Nicolette Krebitz ganz auf digitale Tricksereien verzichtet: Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg musste sich schon Wochen vor Drehbeginn von ihrem Filmpartner beschnuppern lassen: einem ausgewachsenen Wolf.  

Mädchen trifft Raubtier – wie diese Geschichte ausgeht, glauben wir schon zu wissen. Nur ist die junge Frau hier kein Rotkäppchen, sondern wird selbst zur Jägerin.

Ania (Stangenberg) lebt in einer grauen Industriestadt in Ostdeutschland. Wobei, was heisst schon leben: Ania wohnt allein in einem Plattenbau und arbeitet tagsüber in einem Büro, in dem der Chef (Georg Friedrich) Papierkugeln gegen die Glaskabäuschen der Mitarbeiter wirft, um sie auf Trab zu bringen.

Das ist klassische Konditionierung und auf jeden Fall schlecht für Anias Selbstbewusstsein. Doch das Gegenprogramm zur arbeitsweltlichen Abrichtung nähert sich auf leisen Pfoten: Eines Tages sieht die junge Frau auf ihrem Weg zum Bus einen Wolf – und ist von dieser Begegnung verzaubert.

Mit dem Wolf im Bett

Ania setzt alles daran, ihrem Seelentier näher zu kommen, sie ködert es mit rohem Fleisch und lebenden Karnickeln. Schliesslich gelingt es ihr, den Wolf zu betäuben und zu sich nach Hause zu bringen. Dort stellt der tierische Untermieter nicht nur Anias Wohnung, sondern ihr ganzes Leben auf den Kopf: Im Bann des Vierbeiners entfremdet sich die junge Frau ihrer entfremdeten Umwelt und erlebt ein sexuelles Erwachen.

In Anias erotischen Tagträumen tritt der blutrünstige Wolf als Liebhaber auf, der die menstruierende Frau zum Höhepunkt leckt. Man kann diesen Tabubruch wegzulachen versuchen, aber das sinnlich-verstörende Bild bleibt, ebenso wie die stöhnende Rutschpartie, die Ania bäuchlings auf einem Treppengeländer unternimmt.     

So unglaublich diese Geschichte einer weiblichen Selbstfindung klingt, so realistisch ist sie umgesetzt. Regisseurin Nicolette Krebitz hält den Grundton düster und dreckig, ohne jede Spur von Ironie. Das ist eine Stärke des Films, reizt aber auch zum Widerspruch: Die Freiheit, die Ania im Tausch von gesellschaftlicher Norm gegen blinden Instinkt sucht, ist doch zumindest fragwürdig.

«Wild» endet nicht im Naturkitsch, sondern in der verwüsteten Mondlandschaft einer ehemaligen Kohlengrube, wo schmutzige Hügel die Aussicht auf ein esoterisches Happy End verstellen. Ob Ania Anschluss an ein Rudel, menschlich oder tierisch, findet, bleibt so offen wie dieser eigenwillige Film.  

 

«Kein Tier wurde bei den Dreharbeiten verletzt», heisst es manchmal im Abspann, doch bei «The Lobster» von Yorgos Lanthimos möchte man kein Geld darauf verwetten. Noch bevor der Film richtig angefangen hat, steigt eine Frau auf einer verlassenen Landstrasse aus ihrem Auto – und erschiesst einen Esel.

Von da an wird «The Lobster» nur noch seltsamer. Ein Architekt mittleren Alters (Colin Farrell) bezieht ein Luxushotel, wo er 45 Tage bleiben soll, um eine neue Partnerin zu finden. Klappt das nicht, wird er zur Strafe in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Beim Aufnahmegespräch legt sich der Architekt auf einen Hummer fest: Er hatte schon immer eine Schwäche für Wasser, ausserdem ist das Krustentier äusserst langlebig. «Eine exzellente Wahl», stimmt ihm die Hoteldirektorin zu.

Der Alltag der Hotelgäste wird von willkürlichen Auflagen bestimmt, die in ihrer Künstlichkeit ebenso erschreckend wie erheiternd sind. Nur Paare mit deckungsgleichen Vorlieben und Defekten können den Test bestehen. Masturbieren ist verboten, wer dennoch Hand anlegt, muss seine Finger in einen Toaster stecken. Wie schon in seinen Filmen «Dogtooth» und «Alps» macht sich Lanthimos einen teuflischen Spass daraus, die Regeln eines bizarren Spiels aufzustellen, das in sich geschlossen ist.

Ungewaschene Singles

Natürlich gibt es auch in «The Lobster» ein Aussen, einen idyllisch verwachsenen Wald, in dem sich die Aussätzigen dieser Paar-fixierten Gesellschaft verbergen: eine Horde ungewaschener Singles, die sich dem ebenso rigiden Regime ihrer Anführerin unterwerfen müssen (keine Techtelmechtel) – und von den Hotelgästen gejagt werden.

Selbstverständlich landet irgendwann auch der Architekt bei den Parias und findet ausgerechnet dort seine Liebe (Rachel Weisz), mit der er sich nur in einer erfundenen Zeichensprache unterhalten kann: Kopf nach links = Ich liebe dich. Kopf nach rechts = Gefahr. Rechte Faust hinter den Rücken = Sex. Das kann nicht lange gut gehen, und tatsächlich färbt sich der schwarze Humor bald blutrot. So weit hat es die Gesellschaft in «The Lobster» gebracht, dass der Mensch dem Menschen tatsächlich zum Wolf wird.

Drei Filme, drei Lebensgefühle zwischen Begehren und Befremden, Zivilisationsflucht und Naturneurose. Der Mensch tritt darin nicht als Krone der Schöpfung auf, er schlägt der Evolution vielmehr die Krone ins Gesicht: als gefährliches und gefährdetes, sicher aber als das seltsamste Tier überhaupt.

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«The Jungle Book» läuft in den Basler Kinos Capitol, Küchlin und Rex.
«The Lobster»: Stadtkino Basel, 23., 29. und 30. April.
«Wild» läuft ab 5. Mai im Stadtkino Basel.

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