Jonas Lüscher, das ist der Philosoph, der eigentlich eine Dissertation über das Silicon Valley verfassen wollte. Und stattdessen einen Roman schrieb. «Kraft» begeisterte die Intellektuellen von Basel bis Berlin, weil Lüscher damit nicht nur mit dem Machbarkeitswahn der Technokraten abrechnet, sondern auch mit dem neoliberalen Denken, dem einstmals sozialliberale Geister wie die hiesige FDP anheimgefallen sind.
Lüscher gewann mit «Kraft» den Schweizer Buchpreis und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Und «Frühling der Barbaren», seine Novelle über Finanzkrise, Globalisierung und die kulturelle Arroganz der Westler, gehört zu den Lieblingsbüchern von Deutschschweizer Gymnasiallehrern, die versuchen, ihren Jugendlichen ein wenig kritisches, politisches Denken näherzubringen.
Aktivismus statt Literatur
Jetzt wird Lüscher, der Vorzeigeintellektuelle, zum Aktivisten. Er hat die Arbeit an seinem dritten Roman in den letzten Wochen niedergelegt, um Demonstrationen in ganz Europa zu planen, zusammen mit dem österreichischen Philosophen Michael Zichy. Am Samstag, 13. Oktober sollen in 50 europäischen Städten fünf Millionen Menschen gegen Rechtspopulisten auf die Strasse gehen.
Zichy und Lüscher machten die Mobilisierungsarbeit, unterstützt von einem kleinen Team. Sie starteten einen Online-Aufruf und schrieben Mails an bekannte Kulturschaffende und baten sie, den Aufruf zu unterstützen, etwa den Schweizer Filmemacher Samir und Autoren wie Adolf Muschg. Sie kontaktierten Organisationen in europäischen Städten mit der Bitte die Planung der Demonstrationen vor Ort zu übernehmen.
Auch hier in Basel ist eine Organisation mit der Planung der Demonstration beschäftigt: Das Bleiberecht-Kollektiv, das sich für Sans-Papiers einsetzt.
Jonas Lüscher, haben Sie Ihr Transparent für die Demonstration schon gemalt?
Nein. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich habe genug damit zu tun, die über 50 Demonstrationen zu koordinieren. Ich werde aber am Samstag in Salzburg demonstrieren.
Dabei wohnen Sie in München, oder?
Ja, aber in München wurde dieses Jahr so viel demonstriert, gegen die AfD und vor allem gegen die Politik der CSU-Regierung, dass die Kräfte, die in München Demonstrationen organisieren, schlicht erschöpft sind.
Was ist denn der Hashtag der Demo?
Oh, das weiss ich nicht, da müsste ich unsere Social-Media-Verantwortliche fragen. Ich nutze die Sozialen Medien selber nicht, bin in diesem Bereich etwas unbedarft, und deswegen haben wir eine Spezialistin an Bord geholt.
Sie haben die Arbeit an Ihrem dritten Roman verschoben, um diese Demonstration zu planen. Was macht einen Literaten zum Aktivisten?
Die Sorge um die politische Zukunft Europas. In Ungarn und Polen vernichten sich die jungen Demokratien gerade selbst, in Österreich sitzt die FPÖ mit in der Regierung, in Italien fährt die populistische Koalition einen Europa- und ausländerfeindlichen Kurs. In Deutschland laufen Neonazis zusammen mit AfD-Abgeordneten durch die Strassen und es sind wieder Hitlergrüsse zu sehen. Der Brexit ist eine Zäsur. Und ausserhalb Europas sieht es auch nicht besser aus. Brasilien verabschiedet sich gerade von der Demokratie.
Sie schreiben im Aufruf zur Demonstration: «Freiheit und Frieden sind nicht mehr selbstverständlich». Übertreiben Sie nicht?
Nein, ich glaube nicht. Die Politik Trumps strahlt auf die ganze Welt aus. Despotische Regime sehen ihre Zeit gekommen, weil sie wissen, dass sie kaum Widerspruch zu befürchten haben. Die Saudis trauen sich den Kritiker Khashoggi im Konsulat in Instanbul verschwinden zu lassen. Die Chinesen bauen Umerziehungslager für die Uiguren. Die Russen schicken Auftragsmörder nach England. Journalisten werden eingesperrt oder umgebracht. Es sind gute Zeiten für Despoten. Alle sozialen und politischen Errungenschaften der letzten 150 Jahre wie die Arbeitslosenversicherung, die AHV, die Mutterschaftsversicherung, die Sozialhilfe, aber auch Frauenrechte sind keine Selbstverständlichkeit. Sie sind hart erkämpft und sie können auch wieder verloren gehen.
«Der Populismus der SVP ist ein sehr spezifisch helvetischer. Jörg Haider und Berlusconi hatten da mehr Strahlkraft.»
Die Schweiz gilt mit der SVP als Avantgarde des Rechtspopulismus in Europa. Zu Recht?
Die Schweiz war jedenfalls eines der ersten Länder, in denen eine rechtspopulistische Partei stärkste Kraft wurde. Aber der Populismus der SVP ist ein sehr spezifisch helvetischer. Jörg Haider in Österreich und Berlusconi in Italien hatten da mehr Strahlkraft und ihr politischer Stil wurde prägend für alle folgenden Rechtspopulisten. Und momentan verliert die SVP in den kantonalen Wahlen Stimmen. Hoffentlich ist das ein gutes Zeichen für das restliche Europa.
Die SVP verliert Wählerstimmen, weil weniger Flüchtlinge nach Europa kommen.
Jetzt suchen sie Ersatz mit den fremden Richtern und der Selbstbestimmungsinitiative. Als seien die paar Urteile der Richter aus Strassburg das grösste Problem der Schweizer… Mich erinnert diese Abstimmung an die Minarett-Initiative, wo man ein Gesetz wegen vier Minaretten in der Schweiz wollte. Das ist doch Symbolpolitik.
Für die SVP ist die Selbstbestimmung ein Problem, weil sie immer wieder Initiativen formuliert, die nicht mit der Verfassung oder dem Völkerrecht vereinbar sind.
Und genau deswegen brauchen wir übergeordnetes Recht. Zudem wäre es ein fatales Zeichen: Wenn die Selbstbestimmungsinitiative angenommen wird, verabschiedet sich ein Land mit grosser humanitärer Tradition aus dem Kreis derer, die an die Idee universell gültiger Rechte glauben.
«Verglichen mit anderen Ländern geht es den Leuten in der Schweiz paradiesisch.»
Warum kommen diese Positionen bei vielen Wählern so gut an?
Das ist komplex. Aber es spielt sicher ein grosse Rolle, dass das Angebot der Rechtpopulisten so verlockend ist. Man bietet einen äusseren Feind an, indem man wie Horst Seehofer die Migration zur «Mutter aller Probleme» erklärt.
Was wären denn Ihrer Meinung nach die tatsächlichen Probleme?
Deutschland wurde in Teilen in den vergangenen Jahren immer mehr zum Niedriglohnland, und in vielen europäischen Ländern rächt sich das Versagen der Politik nach der Finanzkrise. Italien hat eine riesige Jugendarbeitslosigkeit, die Lage der Menschen in Griechenland ist immer noch ziemlich verheerend.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz sehe ich erfreulich wenig Probleme. Aber mit zunehmendem Wohlstand verschiebt sich auch, was in einer Gesellschaft als prekäre Umstände wahrgenommen wird. Und es gibt auch in der Schweiz Menschen, denen es nicht gut geht – gerade Alleinerziehende und ihre Kinder sind armutsgefährdet. Doch verglichen mit anderen Ländern geht es den Leuten in der Schweiz paradiesisch.
«Die Linke müsste sich erst mal trauen, für eine Weile unpopulär zu sein.»
Es ist ja nicht so, dass die Linke diese Probleme nicht sähe.
Aber die Ausländerthematik ist eben nicht die Mutter aller Probleme, so einfach ist es nicht. Es wäre die Aufgabe der Linken, das zu sagen, doch sie traut sich nicht. Dabei liegen die Ursprünge der Sozialdemokratie in den Arbeiterbildungswerken, die ihre Aufgabe darin sahen, zu sagen, die Welt sei zwar durchaus kompliziert, aber mit etwas Anstrengung durchaus zu verstehen. Und dieses Verstehen führt zur Selbstermächtigung und befreit einen von den eigenen Ressentiments.
Warum traut sich die Linke nicht?
Darauf habe ich, zumindest auf die Schnelle, keine richtige Antwort. Man müsste sich eben erst mal trauen, für eine Weile unpopulär zu sein und nicht einfach eifrig zu beteuern, dass man die Ängste des Volkes ganz sicher ernst nehme. In vielen Ländern sind die Sozialdemokraten derart marginalisiert, dass ich die leise Hoffnung habe, man traue sich vielleicht bald, diesen Schritt zu tun. Aber das alles wäre Stoff für ein ganz eigenes Gespräch.
Ist die Linke wirklich feige? Ist es nicht vor allem die christlich-konservative und die liberale Mitte, die eingeknickt sind und heute oft gemeinsam mit der SVP Antiausländerpolitik machen?
In Deutschland singen jetzt sogar Teile der Linken in diesem Chor mit. Aber sicher: Das Problem hat selbstverständlich nicht die Linke alleine zu verantworten. Nach dem Niedergang des Sozialliberalismus, zu Beginn der 1980er-Jahre, hat sich ein marktliberaler Konsens über fast alle Parteien, bis tief in die Sozialdemokratie hinein verbreitet – man denke nur an Clinton und Blair oder auch Schröders Agenda 2010.
So im Sinne von: Man muss deregulieren, Steuern und Sozialleistungen abbauen.
Ja. Ich hoffe sehr, dass sich die Linke auf die Anfänge der Sozialdemokratie besinnt und daraus ein neues linkes Selbstbewustsein enstehen wird.
«Der Wohlstand ist ja etwas Gutes. Kein Wunder fürchtet man, ihn zu verlieren. Aber Abschottung nützt nichts.»
Gibt es denn die richtigen Antworten auf die Globalisierung?
Ja, die guten alten sozialdemokratischen Antworten. Gegen Tieflöhne hilft der Mindestlohn, den man in Deutschland im Jahr 2017 eingeführt hat – gegen den Widerstand der Industrie, die vorab behauptete, das führe zu einer Krise. Was nicht passiert ist. Nun müsste man ihn erhöhen. Gegen die Jugendarbeitslosigkeit hilft das duale Bildungssystem. Länder, die es haben, sind besser dran. Einige Bundestaaten in den USA wollen es deshalb einführen, mit der Schweiz als Vorbild.
Sie sagten eben, den Schweizern gehe es gut. Trotzdem fürchten sich auch Schweizer vor dem Abstieg.
Je mehr man hat, desto mehr hat man auch zu verlieren. Dieser psychologische Effekt spielt sicher eine Rolle.
Ist die Erklärung für den Aufstieg der SVP wirklich so einfach?
Das ist nicht einfach, der Wohlstand ist ja etwas Gutes. Kein Wunder fürchtet man, ihn zu verlieren. Aber Abschottung nützt nichts, was ausserhalb unseres Gärtlis passiert, betrifft auch uns. Und diese Abschottung hat auch etwas bigottes – wir wollen Handys aus China und Kleider aus Bangladesch. Aber sobald es übers Handeltreiben hinausgeht, interessiert es uns nicht. Dabei ist es offensichtlich: So lange es erlaubt ist, Kleider nach Europa einzuführen, die unter schlimmsten Bedingungen produziert werden, so lange kann auch keine europäische Textilindustrie überleben.
Wenn man die Kleiderimporte stärker reguliert, stärkt man die lokale Industrie?
Ich würde es allgemeiner sagen: Solange die Arbeiterin und der Arbeiter in China, Indien und Bangladesch keine Rechte haben, werden keine Industriejobs nach Europa zurückkehren.
Kann die Schweiz hier alleine entgegenhalten?
Nein, die Probleme, die die Globalisierung mit sich bringt, verlangen nach supranationalen Antworten. Deshalb brauchen wir ein starkes, solidarisches Europa.
«Bereits die Vorstellung, dass nicht alle Menschen gleichwertig sind, nagt am Fundament der Demokratie.»
Die SVP ist bei uns eingebunden, sogar in die Regierungen. Soll man Rechtspopulisten einbinden, mit ihnen reden?
Darauf gibt es keine befriedigende Antwort. Die Lage ist jetzt auch in Deutschland so: Die AfD ist da, man muss mit ihr umgehen. In der Regel bewegen sich diese Politiker schlau im Rahmen des Grundgesetzes. Doch regelmässig sagt dann ein AfD-Politiker etwas eigentlich Unsagbares. Darauf folgt die Empörung der Anderen und darauf das Dementi, man sei falsch verstanden worden, man habe das so nicht gemeint… und damit verschiebt sich ganz langsam der Rahmen des Sagbaren. Diesen Mechanismus zu unterbrechen ist sehr schwer und bislang nicht gelungen.
Aber konservative Haltungen sind für Sie akzeptabel?
Ja. Das Menschenbild der Konservativen ist mir zwar zuwider, aber alle Positionen sind legitim, solange sie sich im demokratischen Rahmen bewegen. In der Demokratie geht es darum, dass man verschiedene Positionen aushält und streitet. Das ist zwar mühsam, aber es lohnt sich.
Was sprengt den demokratischen Rahmen?
Grundsätzlich natürlich, was gegen Recht und Gesetz verstösst. Die alten Werte der französischen Revolution, Gleichheit, Freiheit und Solidarität setzten immer noch den Rahmen des Demokratischen. Bereits die Vorstellung, dass nicht alle Menschen gleichwertig sind, nagt am Fundament der Demokratie.
Ihr Ziel für die Demonstration ist es, in Europa fünf Millionen Leute auf die Strasse zu bringen. Schaffen Sie das?
Fünf Millionen werden es nicht. Es ist uns nicht gelungen, die dafür nötige Eigendynamik in Gang zu bringen – das muss ich selbstkritisch zugeben. Aber es werden Demonstrationen in über 50 Städten stattfinden – von Palermo bis Eskilstuna in Schweden, von Minsk bis Lissabon. Das ist doch schon sehr erfreulich. Wichtig ist: In ganz Europa werden Menschen gemeinsam gegen den Nationalismus und für ein demokratisches Europa auf die Strasse gehen. Auch in Basel und Zürich.
Demonstration gegen Populismus und Nationalismus in Basel. 13. Oktober, 14:00 Uhr, Treffpunkt: Claraplatz. Infos.