Gutmenschen der Schweiz, vereinigt euch

Ich kann doch nicht in Markenklamotten aus China für eine gerechtere Wirtschaft demonstrieren. Ich kann doch nicht ein System kritisieren oder gar bekämpfen, von dem ich profitiere und Teil bin. Unser neuer Kolumnist sagt: Doch!

Wer die Welt zu einem angenehmen Ort machen möchte, ist nicht naiv und verblendet. Sondern erwachsen und vernünftig.

(Bild: Nils Fisch)

Ich kann doch nicht in Markenklamotten aus China für eine gerechtere Wirtschaft demonstrieren. Ich kann doch nicht ein System kritisieren oder gar bekämpfen, von dem ich profitiere und Teil bin. Unser neuer Kolumnist sagt: Doch!

Ich wünsche mir für die Schweiz mehr junge Gutmenschen oder auch gute Jungmenschen. Jung steht für mich hier nicht für eine Altersklasse und Gutmensch nicht für jemanden, der alles richtig macht oder denkt, dass er dies tut. Ich wünsche mir ein Aufwachen der schweigenden Masse, der guten Feen, der Dichter und Denker, der Kreativen, der aufgeschlossenen und offenen Geister!

Gutmensch – was für ein fieses Wort, seit es uns entrissen wurde und als Verunglimpfung gebraucht wird. Lasst es uns zusammen mit den Edelweiss-Hemden und der Schweizer Flagge zurückerobern. Wir dürfen nicht zuschauen, wie global riesiges Leid um sich greift und unser Land die einzig vernünftige Reaktion darauf – akute Nothilfe – verweigert. Nur weil Fundamentalisten und Schreihälse aus unterschiedlichen Lagern die Gesellschaft zu spalten versuchen.

Die Superreichen sind die neuen Anarchisten, für die keine Regeln gelten, weil sie nichts zu befürchten haben.

Ich meine: die Welt wird von Anschlägen von Fundamentalisten erschüttert und die Reaktion der westlichen Länder ist es, selbst Extremisten in führende Positionen zu wählen? Das können und wissen wir doch besser! Hunderttausende Menschen in der Schweiz wissen, dass Abkapselung, Zäune und Mauern die denkbar schlechteste Reaktion auf die momentane Notlage sind. Jeder vernünftige Mensch weiss es: Wir haben eine Verantwortung gegenüber den flüchtenden Menschen weltweit.

Die Schweiz ist kein Sonderfall, der sich viel edler verhalten hat als alle anderen und deshalb in Wohlstand lebt. Die neoliberale Wirtschaft treibt uns eher Richtung Abgrund als in ein goldenes Zeitalter. Die Trickle-Down-Theorie, wonach der Wohlstand der oberen Zehntausend zu Gesellschaftsschichten weiter unten durchsickert, wurde längst entlarvt; der Mittelstand leidet in allen Industrienationen, die Superreichen sind die neuen Anarchisten, für die keine Regeln gelten, weil sie nichts zu befürchten haben.

Nur eine gerechtere Verteilung des Wohlstands, mehr Bildung weltweit und gleiche Rechte für alle können in eine stabile globale Gesellschaft mit echten Zukunfts-Chancen führen. Stattdessen nehmen wir rassistische Initiativen an, schauen zu, wie die Menschenrechte angegriffen werden und vertrauen eher millionenscheffelnden Familienclans, die sich Medien kaufen, als Menschen, die sich für mehr Gerechtigkeit, Offenheit und Fortschritt einsetzen.

Lieber ein kleiner Hypokrit als ein Riesenegoist.

Wieso lassen wir das zu? Warum sind diese Stimmen, die schnelle Pseudolösungen anbieten, so viel lauter als Leute, die wissen, dass nachhaltige Lösungen für nationale und internationale Konflikte langjährige Prozesse sind, die viel Feingefühl, Kompromisse und ständigen Dialog erfordern? Was ist mit den Gutmenschen los?

Sie haben Angst! Nicht nur vor den anderen, sondern vor allem vor sich selbst und der eigenen Inkonsequenz. Ich kann doch nicht in Markenklamotten aus China für eine gerechtere Wirtschaft demonstrieren. Ich fahre Auto, ich fliege, esse im McDonald’s, lasse mich gerne von dämlichen Sendungen einlullen. Ich kann doch nicht ein System kritisieren oder gar bekämpfen, von dem ich profitiere und Teil bin. Das wäre Doppelmoral.

Ich sage: Doch! In einer Welt, in der ich mich entscheiden muss zwischen aktiver Beteiligung an der Veränderung der Gesellschaft zum Besseren unter Inkaufnahme einer gewissen Inkonsequenz und dem totalen Aufgehen in einer egoistischen und ignoranten Konsumgesellschaft – entscheide ich mich für Ersteres. Oder einfacher gesagt: Lieber ein kleiner Hypokrit als ein Riesenegoist.

Ein Gutmensch ist nicht einer, der glaubt, alle Menschen seien gut, sondern einer, der weiss, dass Menschen zu Egoismus neigen, aber auch viel Potenzial besitzen.

Klingt problematisch, ist es vielleicht auch. Aber es ist eben auch ehrlich. So sind Menschen – im Grossen und im Kleinen. Wir wollen doch alle nicht rauchen und uns gesund ernähren und mehr Sport treiben. Sind wir dabei immer konsequent? Nein! Sollten wir uns deshalb völlig aufgeben, nie mehr Sport treiben und einer Sekte beitreten, die glaubt, dass drei Päckli Zigis pro Tag einen näher zur Erleuchtung führen? Nein.

Ein Gutmensch ist nicht einer, der glaubt, alle Menschen seien gut, sondern einer, der weiss, dass Menschen schwach sind und zu Egoismus neigen, aber auch viel Potenzial und Kreativität besitzen und wir gemeinsam eine Welt schaffen müssen, die für möglichst viele dieser seltsamen Kreaturen ein möglichst angenehmer Ort ist. Das ist vernünftig und ausgewogen. Ja, realistisch und erwachsen. Nicht naiv und verblendet.

Lasst uns erwachen, mutig sein und gemeinsam – ich sage es jetzt – die Welt verändern. In letzter Zeit haben ein paar Tausend Fundamentalisten aller Couleur den Ton angegeben. Ich wünsche mir, dass im neuen Jahr wieder die eigentlich viel mächtigere Stimme der Vernunft zu hören ist. Gutmenschen der Schweiz – vereinigt euch.

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