Hartmannswiller-Kopf: ein Besuch auf dem Menschenfresser-Berg

Vor 100 Jahren tobte 70 Kilometer vor Basel der wohl erbittertste Kampf des Ersten Weltkriegs. Und der unsinnigste: Keine der Kriegsparteien konnte sich durchsetzen. Heute erinnert ein Rundgang auf dem Hartmannswillerkopf an diese absurde Schlacht.

Ein beinahe idyllisches Bild: Der französische Friedhof und die Krypta, in der die nicht identifizierten Soldaten begraben wurden.

Die ersten Schritte sind unspektakulär. Auf dem Weg zur Krypta knirschen Kieselsteine unter den Füssen. Vorne ragt das Ziel des Spaziergangs hervor, die Waldkuppe, auf der ein grosses weisses Kreuz steht. Einmal angelangt bei der Gedenkstätte, wird der Magen flau. Wir stehen vor einem Meer von Kreuzen.

Auf jedem einzelnen von ihnen steht der Name eines französischen Soldaten, der hier oben sein Leben liess. Dazu jeweils der Satz «Mort pour la France», gestorben für Frankreich. Der Hartmannswillerkopf oder Vieil Armand, wie er auf Französisch heisst, hat im Ersten Weltkrieg einen Beinamen erhalten: «Mangeur d’homme», Menschenfresser. Nirgendwo sonst starben auf so engem Raum so viele Menschen.

Kreuze in Reih und Glied: Der französische Friedhof auf dem Hartmannswillerkopf.

Franzosen und Deutsche bekriegten sich auf dem strategisch wichtigen Hügel von 1914 bis 1918. Allein 1915 wechselt die Kontrolle über die Bergkuppe vier Mal, die Front verschob sich dabei jeweils um einige wenige Meter. Ab 1916 beschränkten sich Deutsche und Franzosen darauf, ihre Seite des Berges zu verteidigen. Am Ende waren 30’000 Soldaten tot, 60’000 wurden verletzt. Die Elsässer, die auf dem Vieil Armand kämpften, starben in deutschen Uniformen, denn in dieser Zeit gehört das Elsass zum Deutschen Reich.

Heute ist der Hartmannswillerkopf eine Gedenkstätte. Seit 1921 steht er unter Denkmalschutz, 1932 wurde die Krypta errichtet, in der die Gebeine von 12’000 nicht identifizierten Soldaten ihre letzte Ruhestätte fanden. 250’000 Menschen, in erster Linie Deutsche und Franzosen, besuchen den Ort jedes Jahr. 2014 umarmten sich hier oben der französische Präsident François Hollande und der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck als Zeichen der europäischen Versöhnung.

Leise Zeugen eines brutalen Gefechts.

Vom französischen Friedhof führt ein Weg auf die Spitze des 956 Meter hohen Vogesengipfels. Auf dem Weg dorthin fallen immer wieder die tiefen Kerben auf, die zwischen den Bäumen freiliegen. Was war hier wohl? Ein Rückzugsort? Ein Lager? Oder handelt es sich um Detonationstrichter?

Die alten Schützengräben weisen den (Rund-)Weg, der 4,5 Kilometer lang ist. Insgesamt gibt es hier oben noch 60 Kilometer Schützengräben, die Überreste von 600 Bunkern und Unterständen sind auf dem Gelände verstreut. Spätestens beim Anblick der verrosteten Wellbleche oder spitzen Stangen, die aus dem Boden ragen, wird einem bewusst, dass man auf einem Kriegsschauplatz steht.

An einem Felsvorsprung kommt ein kleiner Unterstand zum Vorschein. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie sich die Soldaten hier kauernd aneinanderlehnten, um nicht ins Kreuzfeuer zu geraten. Ich muss an Erich Maria Remarque denken, an sein Buch «Im Westen nichts Neues»:

«Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muss auf das, was geschehen wird. Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben in der Spannung des Ungewissen. Über uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoss kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlägt, kann ich weder genau wissen noch beeinflussen.»

Ein wunderschöner Wald, der aber nie vergessen lässt, was hier passiert ist.

Es ist ein wunderschöner Wald, der den Hartmannswillerkopf einhüllt. Eine der Infotafeln zeigt, wie es hier aussah, als der Krieg vorbei war: Kein einziger Baum stand mehr, es war nur noch ein kahler Flecken Erde. Binnen 100 Jahren hat sich die Natur langsam ihren Platz zurückerobert.

Aber es gibt Wunden, die nicht mehr heilen. Beinahe absurd wirken die Familien, die hier oben picknicken, als wäre das irgendein Wald, irgendein Ort. Nicht ein riesiger Friedhof, dessen Erde voll von Gebeinen ist, die nie geborgen wurden. Selten war mir Geschichte näher als hier.

«Ebenso zufällig, wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben. Im bombensicheren Unterstand kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Feld zehn Stunden Trommelfeuer unverletzt überstehen. Jeder Soldat bleibt nur durch tausend Zufälle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut dem Zufall.»

Der Rückweg führt wieder am Soldatenfriedhof vorbei. Ein einzelner  weisser Grabstein sticht zwischen den Kreuzen hervor: «Saïd Mohand Arab. Mort pour la France». Auch er ist Teil dieser Geschichte.

Auch er starb für Frankreich: Saïd Mohand Arab, gestorben am 25.5.1915.

Anreisen: Um von Basel auf den Vieil Armand, den Hartmannswillerkopf, zu kommen, braucht man ein Auto oder ein Velo und gute Beine. Die Autofahrt dauert über Mulhouse und Uffholtz knapp eineinhalb Stunden. Direkt neben der Gedenkstätte gibt es einen grossen Parkplatz. Vom 12. November bis Ostern ist die Zufahrtsstrasse gesperrt.

Erleben: Der Rundgang dauert je nach Kondition und Pausen rund 90 Minuten. Auf 45 Schildern wird die Geschichte des Berges erklärt. Die Krypta ist zwischen dem 1. Mai und dem 11. November täglich geöffnet. Das 2017 eröffnete Historial zeigt eine Dauerausstellung.

Verpflegen: Nahe der Gedenkstätte serviert die Ferme Auberge de Molkenrain traditionelle elsässische Speisen. Wer wandern möchte, zum Beispiel bis zum Grand Ballon, kann hier auch im Massenschlag übernachten, die Ferme Auberge bietet Halbpension an.

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