Hier frisst der europäische Strombedarf den Regenwald

Der Film «La buena vida» geht unter die Haut. Er dokumentiert die Vertreibung indigener Dorfbewohner durch den grössten Kohletagebau der Welt. Die Steinkohle wird auch nach Europa exportiert, damit westliche Konsumenten genügend billigen Strom haben.

Wenn das kein «gutes Leben» ist...

Der Film «La buena vida» geht unter die Haut. Er dokumentiert die Vertreibung indigener Dorfbewohner durch den grössten Kohletagebau der Welt. Die Steinkohle wird auch nach Europa exportiert, damit westliche Konsumenten genügend billigen Strom haben.

Es ist eine Geschichte, die so oder ähnlich an vielen Orten auf der Welt spielen könnte. In seinem Dokumentarfilm «La buena vida» erzählt der deutsche Regisseur Jens Schanze vom Kampf der indigenen Wayúus für ihr Dorf. Er kommt ohne Off-Kommentar oder Interviews aus und lässt die Bilder für sich sprechen.

Das kleine Dorf Tamaquito befindet sich im Regenwald im Nordosten Kolumbiens. Die traditionelle Existenz seiner Bewohner wird bedroht: Ein gewaltiges Loch, das schon 700 Quadratkilometer Regenwald zerstört hat, frisst sich immer näher an ihre Siedlung heran. Der weltweit grösste Kohletagebau zwingt die Wayúus zur Umsiedlung. Ausgebeutet wird das Kohlevorkommen von der kolumbianischen Firma Cerrejón; es gehört zu je einem Drittel den Rohstoffkonzernen Anglo American, BHP Billiton und Glencore Xstrata.

Grosses Interesse in der Schweiz

Die Situation der Wayúus in Kolumbien ist exemplarisch für zahlreiche Dörfer, die weltweit in den Sog der Globalisierung geraten und wegen lukrativer Wirtschaftsprojekte umgesiedelt werden. Auch europäische Länder waren schon von diesem Phänomen betroffen: So hat Jens Schanze vor der Jahrtausendwende Filme über den Braunkohletagebau und Umsiedlungen in Deutschland gedreht. Auf das kolumbianische Pendant ist er durch Zufall gestossen. Er sagt: «Ich hatte mich mit einem Schweizer Freund über das Thema unterhalten und war überrascht, dass deutsche Energiekonzerne tonnenweise Steinkohle aus Kolumbien importieren, nur damit wir westlichen Konsumenten genügend Strom haben.»

Mitte Januar war Schanze mit dem Film auf einer Vorpremieren-Tour in unterschiedlichen Städten der Schweiz. Alle Vorstellungen seien gut besucht, oft sogar ausgebucht gewesen, sagte er bei der letzten Schweizer Vorpremiere in Basel. Das Thema des Films ist hierzulande aktueller denn je: Die Konzernverantwortungs-Initiative will Schweizer Firmen künftig auch im Ausland zur Rechenschaft ziehen. Hintergrund der Initiative sind zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch Schweizer Konzerne wie Nestlé oder Glencore in Entwicklungsländern.

 

Wir alle stehen in der Verantwortung

«La buena vida» trifft den Nerv der Zeit: Das Thema Nachhaltigkeit ist in aller Munde, die Wichtigkeit eines schonenden Umgangs mit den beschränkten Ressourcen ist – zumindest in der Theorie – auf höchster politischer Ebene angekommen. Der Dokumentarfilm zeigt auf schonungslose und eindrückliche Weise den Zusammenhang der gängigen Konsum- und Produktionsmuster und stellt den Wachstumsglauben infrage. Mit seinem Film will Jens Schanze nicht nur die grossen Rohstoffkonzerne anprangern, es geht ihm auch um ein generelles Hinterfragen unseres «verrückten Lebensstils», wie er sagt. Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, macht er deutlich: In der Verantwortung stehen nicht nur Megakonzerne, sondern wir alle.

Bevor Schanze mit den Dreharbeiten begann, reiste er im Jahr 2011 erstmals für die Vorrecherchen mit einer NGO-Gruppe in die betroffene Region Kolumbiens. Er lernte besuchte indigene Dörfer, die alle durch den Kohletagebau bedroht waren. Fast überall habe depressive Stimmung geherrscht: «Die Konzerne hatten die Dorfgemeinschaften erfolgreich geschwächt. Es gab keinen Zusammenhalt mehr, jede Familie konzentrierte sich nur noch auf das eigene Überleben.» Nicht so in Tamaquito: «Dort fanden wir eine Gemeinschaft mit funktionierenden Strukturen. Die Leute wirkten besorgt, aber sie waren entschlossen, gegen die Umsiedlung vorzugehen, und zwar gemeinsam.» Für Schanze war daher schnell klar, dass er den Film über Tamaquito drehen wollte.

Der Kampf ist noch nicht beendet

Der Dokumentarfilm zeigt den gesamten Prozess, der im Jahr 2011 begann: das eigentlich zufriedene Leben der Dorfbewohner in Tamaquito, das vom Kohletagebau immer stärker beeinträchtigt wird, sowie die Verhandlungen der Einheimischen mit der Firma Cerrejón und deren leere Versprechen auf ein «besseres Leben» in modernen Häusern mit Stromversorgung. Regisseur Jens Schanze sagt: «Nachdem Cerrejón wegen einer gewaltsamen Zwangsumsiedlung im Jahr 2001 heftige Kritik erntete, wollte die Firma ihren Ruf verbessern.» Diese Medienstrategie sei der Grund, weshalb Cerrejón einwilligte, beim gesamten Prozess gefilmt zu werden: «Die Umsiedlung von Tamaquito sollte ihr Vorzeigeprojekt werden.»

Das ist ihnen nicht gelungen: Der Kampf der Wayúus ist noch nicht beendet. Bis zum heutigen Zeitpunkt hält die Firma Cerrejón die vertraglichen Konditionen zur Wasserversorgung in der neuen Siedlung nicht ein. Im März 2015 zeigte Schanze den Film in Kolumbien. Die Stimmung im Dorf sei besser gewesen als bei seinem letzten Besuch: «Die Bewohner haben zwar mit ihren Problemen zu kämpfen, aber die erste Resignation ist überwunden. Es ist wieder ein Zusammenhalt spürbar. Die Wayúus haben nicht aufgegeben und suchen weiterhin nach einer Lösung für das Wasserproblem.»

«Genau so war es»

Eine Abmachung, die er mit der Dorfgemeinschaft getroffen hatte, war, dass die Welturaufführung des Films in Tamaquito stattfinden sollte. Er sagt: «Während der Filmpremiere wurde viel gelacht und geweint, alle waren sehr emotional.» Als der Film zu Ende war, habe es nur wenige Rückmeldungen gegeben. Dafür eine, die ihm besonders blieb. Eine Frau sagte: «Genau so war es» – wohl eines der schönsten Komplimente für einen Dokumentarfilm.

Schanze verbrachte seit 2011 insgesamt 68 Drehtage in Tamaquito und lebte in dieser Zeit im Dorf. Die Begegnung mit den Einheimischen habe ihn auch auf persönlicher Ebene berührt: «Mir wurde erstmals bewusst, wie einfach und glücklich man leben kann.» Am stärksten beeindruckt habe ihn der Anstand, mit dem die Einheimischen den gesamten Prozess durchlebten: «Sie waren zwar entschlossen, sich zu wehren, wurden aber nie respektlos oder aggressiv.» Diese sanfte Wesensart der Wayúus ist bestimmend für den ganzen Dokumentarfilm. Ganz ohne Off-Kommentar oder Interviews haben Wut und Hass kaum einen Platz. So bleibt vor allem ein Gefühl von Trauer. Und die drängende Frage, was «das gute Leben» – «La buena vida» – wirklich ausmacht.

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Der Dokumentarfilm «La buena vida» läuft ab dem 28. Januar in den Deutschschweizer Kinos.

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