Seit über 30 Jahren werden Menschen mit HIV bewertet und entwertet, schreibt Leserin Michèle Meyer. Eine Prävention verhindert das, darüber täusche auch die neue Kampagne des Bundesamtes für Gesundheit nicht hinweg.
Noch immer ist eine HIV-Infektion etwas Unanständiges, Schmutziges. Seit über 30 Jahren werden Menschen mit HIV be- und entwertet: Ihre Lebensentwürfe und sexuellen Biographien sind «anders und amoralisch». Auch in der Prävention. Darüber täuscht auch die zur Schau gestellte Vielfalt und Sexyness der jüngsten Kampagne («Love life») des Bundesrates für Gesundheit und der Aids-Hilfe nicht hinweg. Im Gegenteil.
Wie ein Mantra vorgetragene Ansteckungszahlen und Fingerzeige auf sogenannte Risikogruppen sind genauso kontraproduktiv, wie unnötig hochgehaltene Ängste und die bigotte Haltung, dass Sexualität in moralisch engem Korsett, möglichst monogam und kondomisiert zulässig ist. Ansonsten droht Ausgrenzung und Selbststigma.
Die Angst vor Krankheit, Tod, sozialer Ausgrenzung und Reue ist ein schlechter Berater bei der Risikoeinschätzung. Die Freiheit, sich zu informieren und selbst zu entscheiden, welche Schutzstrategien sinnvoll sind, wird durch Druck und Angstmacherei verunmöglicht. Dafür bietet sich Scheinsicherheit durch Ausgrenzung.
Denn: Wer Andere ausgrenzt, zählt sich zu den Dazugehörenden. Wer dazugehört ist besser; wer besser ist, hat die Definitionshoheit. Wer die Definitionshoheit hat, bestimmt Normen und Moral. Wer Normen und Moral bestimmt, kann Kontrollmechanismen und Sanktionen etablieren und legitimieren. Wer nicht dazugehört ist selber schuld. Durch die Schuldzuweisung wird die eigene Unschuld beschworen und Schutz eingefordert.
Ausgrenzung ersetzt die gemeinsame Verantwortung und legitimiert Ungleichstellung, Diskriminierung und Kriminalisierung. Wer die Kontrolle über Normen und Informationen hat, sichert nicht nur die eigene gesellschaftliche Stellung, sondern auch die Existenz auf Kosten anderer. Und last but not least: Wer sich selbst erhöht, ist ausserhalb der Kontrolle und ist zumindest moralisch unantastbar! Kurz: es macht sexy und unsterblich. Wer möchte das nicht sein?
Durch die Schuldzuweisung wird die eigene Unschuld beschworen und Schutz eingefordert.
Das ist fatal. Es führt zum Verleugnen von eigenem Risikoverhalten, legitimiert Unwissen und Nicht-Informiertsein, hält davon ab, sich selbst auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) testen zu lassen und hat somit eine kontraproduktive Wirkung in der Prävention. All das ist in Fachkreisen längst bekannt.
Ich hoffe die Verantwortlichen für die HIV-Prävention in der Schweiz kommen zur Besinnung und etablieren Kampagnen, die nicht ausgrenzen, sondern beteiligen. Das Virus kümmert sich weder um Normen noch um Moral. Und Sündenbockpolitik ist immer Ablenkung vom Wesentlichen.
Vergessen wir nicht: Sexualität ist Begegnung. Reden wir miteinander. Schützen wir uns wenn schon, dann gegenseitig, ohne moralischen Druck und weil wir es wollen. Im Wissen um alle Schutzmöglichkeiten und um die realen Risiken. In Zeiten der Nichtinfektiösität dürfen Menschen ohne HIV z.B. auch wissen: Dass erfolgreich behandelte Menschen mit HIV zwar sexuell nicht infektiös sind, aber selber einen schlechteren Verlauf bei sexuell übertragbaren Infektionen haben, und dass deren Behandlung kompliziert und nicht immer erfolgreich ist.
Oder schlicht: «Sexualität geht uns alle an. Reden wir miteinander.» Und provokativ: «Schützt Ihr uns vor STIs; wir euch vor HIV. Und gut ist.»