Neulich war ich wieder mal an einer Retro-Party. Es lief Rap aus der Schweiz und Deutschland von der Sorte, die kurz nach der Jahrtausendwende Studenten zum Kopfnicken brachte.
An diesem Anlass hat sich ein Weltbild offenbart, das mich befremdete. Dieses «Heute ist alles alles scheisse – früher war alles besser», das man sonst von Stammtischen kennt, hält Einzug in die von mir so geliebte Kultur.
Während moderner Rap und innovative Künstler längst weitergezogen sind, bestätigte sich an diesem Abend eine Horde Ü30er in breiten Hosen und Graffiti-Tattoos in der Ansicht, dass diese neuen Mumble-Rapper mit ihrem metrosexuellen Look eine Metapher seien für die allgemeine Degenerierung der Gesellschaft.
Kulturpessimismus. Ich verabscheue ihn. Er vereint Künstler und Polterer, Linke und Rechte, Christen und Moslems in ihrem Irrglauben, alles würde immer schlechter werden. Ich möchte hier fünf Behauptungen widersprechen, die mir an besagtem Hip-Hop-Abend und auch bei anderen Gelegenheiten immer wieder vor die Füsse gekotzt wurden.
Die Mode heutzutage ist lächerlich.
Erinnern wir uns bitte ganz kurz an Baggy-Pants, an Tribal-Tattoos, Goa-Freaks in Trompeten-Hosen und weisse Wohlstandskids mit Dreadlocks. Ja, die kollektiv individualistischen Hipsters von heute können nerven mit ihren Skinnyjeans und Outdoor-Jacken, aber bevor ich mir noch einmal von einem 40-Jährigen im 90er-Jahre-Hip-Hop-Look sagen lasse, meine Hose sei zu eng, flüchte ich lieber in die Warteschlange des Supreme-Shops.
Die Musik ist scheisse! In den letzten Jahren sind alle grossen Musiker gestorben.
Fuck that! Legenden wie Jacko, Bowie, Prince und andere stammen nun mal aus einer Zeit, die noch nicht so vernetzt und digital informiert war wie die heutige. Damals stachen einzelne Sterne am Musik- und Showbiz-Himmel hervor. Ihr überragendes Talent wurde durch Print, Radio und Fernsehen beleuchtet und dokumentiert. Heute sind die «Teleskope» dank Youtube und sozialen Medien viel potenter. Statt einzelner Sonnen präsentieren sich unzählige Sterne am Musik-Firmament.
Die Pop-Scheisse, die uns heute von verzweifelten Mainstream-Plattformen präsentiert wird, nervt zwar, aber im Grossen und Ganzen gibt es in der Gegenwart mehr interessante Künstler zu entdecken als im Analogzeitalter. Man muss es nur den heutigen Musikern gleichtun und die Möglichkeiten des Netzes nutzen.
Alle starren nur noch wie Zombies auf ihre Smartphones.
Sagen die, die ihre Jugend vor dem Fernseher verbracht haben. Schon in der Hochzeit des Buches sorgten sich die Alten, weil manche Kids die Nase kaum mehr aus diesen gottlosen Machwerken herausbekamen. Später befahlen Eltern ihren Kindern, den Flimmerkasten auszuschalten und raus in die Natur zu gehen. Und heute wird über den «Handy-Konsum» gemotzt.
Ich bin selbst so ein Junkie und ich schäme mich manchmal dafür. Aber die Hälfte der Zeit, die ich auf den Screen starre, lese ich informative Artikel von Online-Medien, schaue Tutorials oder Doks auf Youtube oder tausche mich mit anderen Musikern, Journalisten und Künstlern aus.
Die Zeit, die ich mit blöden Videos und Memes verplämperle, entspricht in etwa der, die ich als Teenie mit blöden TV-Shows verbracht habe. Ich sehe in Online-Medien in erster Linie eine Quelle des Wissens und der Inspiration. Der Abgrund des Masslosen schlummert im Menschen, nicht im Internet.
Die Sprache verroht. Die ganzen Anglizismen und Slang-Ausdrücke zerstören unsere schöne Mundart.
Falsch. Neukreationen, Vermischungen und Codes bereichern unseren Wortschatz. Eine Sprache, die sich nicht entwickelt, widerspricht ihrem Zweck. Die Sprache der neuen Generation ist dank Musik und Memes schon jetzt auf einer völlig anderen Stufe der Kommunikation als früher. Sie ist vielschichtiger und gleichzeitig flexibler und universeller. Die Weiterentwicklung sichert das Überleben einer Sprache, nicht die Konservierung. Wenn du den Jugendslang blöd findest, bist du vielleicht einfach zu blöd, um ihn zu verstehen.
Die Leute sind heute selbstbezogener als früher.
Wenn man in einem Tram sitzt und fast alle auf ihr Handy starren, statt sich zu unterhalten, kann dieser Eindruck entstehen, ja. Einer dieser Starrer bin ich. Ich lese einen Artikel über Verdingkinder in der Schweiz. Bis in 1980er-Jahre wurden in der Schweiz Kinder wie Sklaven gehandelt. Kinder aus armen Familien schufteten sich auf Bauernhöfen ab und bekamen dafür oftmals wenig Essen und Schläge.
Die Schweizer Bevölkerung ist in dieser und anderer Hinsicht in den letzten Jahren sozialer geworden. Vielleicht hilft diese neue Haltung auch dabei globaler zu denken, weltoffener und weniger selbstbezogen im nationalen Sinne zu agieren.
Jede Generation wähnt sich als letzte, bevor die Welt untergeht.
Im Allgemeinen erlebe ich die neue Generation nämlich als hilfsbereit. Wann hast du das letzte Mal einen alten Menschen ins Tram steigen sehen, ohne, dass ihm sofort ein Platz angeboten wurde?
Der Mensch scheint eine Sehnsucht nach dem Untergang zu haben. «Nach uns die Sintflut!», das tönt oft eher sehnsüchtig als schuldbewusst. Das Gallier-Syndrom: Permanent leben wir mit der Angst, dass uns jederzeit der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Jede Generation wähnt sich als letzte vor dem Weltuntergang.
Die grösste Untergangsgefahr geht von der Vorstellung aus, dass der Untergang kurz bevorstehe. Denn Menschen, für die die Welt dem baldigen Untergang geweiht ist, treffen schlechte Entscheidungen. Zum Beispiel jene, auch 2017 noch Baggy-Pants zu tragen.