Die Sportlerin soll Höchstleistungen erbringen, aber zugleich weiblich wirken und nicht die Männer übertrumpfen. Warum der Leistungssport Rollenklischees festschreibt.
Freak, Maschine, Ausserirdische. Die Reaktionen auf den Weltrekord der chinesischen Schwimmerin Ye Shiwen bei den Olympischen Spielen in London waren radikal. Die letzte Bahn der 400-Meter-Lagen war Ye Shiwen schneller geschwommen als der männliche Olympiasieger, Ryan Lochte. Sofort hiess es, so etwas sei unmöglich, sie könne nur verbotene Mittel eingenommen haben. Was bei einer Athletin aus einem Land, dessen Drill- und Doping-Praktiken bekannt sind, nicht ganz ausgeschlossen ist.
Aber gibt es vielleicht noch andere Gründe, warum es keine Anerkennung ihrer Leistung ohne Zweifel und Vorbehalte gab? Liegt es vielleicht auch daran, dass die Geschlechterordnung nicht ins Wanken geraten darf?
Zuschreibungen, die auf das Nicht-Menschliche abzielen, sind für Sportlerinnen zumindest keine ganz neue Erfahrung. Martina Navratilova war eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen. Sie gewann 18 Einzeltitel bei Grand-Slam-Turnieren, stand fast 20 Jahre lang unter den ersten fünf der Weltrangliste. Sie war ein muskulöser Typ: kräftige Arme, flache Brust, stämmige Beine, ein Aufschlag wie ein Brett. Dazu ein burschikoses Wesen –am Ende ihrer Karriere bekannte sie sich zu ihrer Homosexualität. Ein amerikanischer Sportreporter nannte sie ein «bionisches Sci-Fi-Geschöpf», bei dem eine «Chromosomenschraube» locker sein müsse.
Der Kampf an zwei Fronten
Die Frau im Sport kämpft nicht nur gegen ihre Kontrahentinnen, sondern auch mit ihrer eigenen Rolle und der öffentlichen Wahrnehmung. Ist die Athletin erfolgreich, stark, muskulös, aggressiv im sportlichen Sinn, so wird sie oft als halber Mann verunglimpft, oder es werden ihr Dopingpraktiken unterstellt. Will sie ihre feminine Seite zeigen, bleiben ihr rhythmische Sportgymnastik, Ballett oder Pilates.
Weiblich und gleichzeitig kraftvoll zu sein ist nach wie vor schwierig. «Es gibt in unserem Alltagsverständnis zwei Geschlechter, das eine ist das zartere, das schwächere – und das andere ist das muskulösere, stärkere», sagt Ilse Hartmann-Tews, Soziologin und Genderforscherin an der Deutschen Sporthochschule in Köln. «Und wenn sich Spitzensportlerinnen in Sportarten begeben, wo man Muskeln aufbauen, wo man Kraft haben muss, dann weichen sie von den Schönheitsidealen ab.»
Das System Sport und seine Rezeption ist immer noch extrem von Rollenklischees geprägt. Mehr noch: Es manifestiert die Geschlechtertrennung – und das nicht nur durch getrenntgeschlechtliche Wettkämpfe. Oder wieso können sich viele immer noch nicht vorstellen, dass Frauen vorbehaltlos dahin gehen, wo es wehtut?
Hartmann-Tews erzählt von einem Gespräch mit dem Manager der Boxerin Regina Halmich, der zugab, er müsse seine Athletin neben dem Ring als Frau vermarkten. Halmich wurde also im Laufe ihrer Karriere immer weiblicher. Sie trat meist mit tiefem Décolleté, langen offenen Haaren und stark geschminkt bei öffentlichen Terminen auf – als eine feminisierte Berichtigung ihres derben Gebarens im Boxring. Mit Genuss wurde dieses Bild von jenen Medien aufgegriffen, die dankbar sind für jede sexistische Anschaulichkeit.
Als das Wirken im Haushalt
noch aus ausreichende
Bewegung für Frauen galt
Oder nehmen wir Sanya Richards-Ross. Die Olympiasiegerin über 400 Meter hat breite Schultern, ausdefinierte Oberarme, einen Six-Pack-Bauch und kräftige Beine. Ihren Körper, der im Steckbrief männlichen Idealen entspricht, schmücken enganliegende rote Armstulpen, dazu glitzernde Ohrringe, lackierte Fingernägel. Sie trägt die Haare extrem lang, zum Pferdeschwanz gebunden. Was ein bisschen wie eine Maskerade wirkt und schnelles Laufen nicht vereinfacht, ist im Grunde die Korrektur der sportlichen Identität ins Feminine.
Zu Beginn der olympischen Bewegung im 19. Jahrhundert war der Frau überhaupt keine aktive Rolle zugedacht: «Ungezügeltes Rennen, Klettern oder Hüpfen können bei allzu grosser Erschütterung die weiblichen Fortpflanzungsorgane funktionsuntüchtig machen.» Die Warnung eines britischen Mediziners beherzigten viele Frauen und rannten, kletterten und hüpften vorerst nicht. Überhaupt: Durch das Wirken im Haushalt bekämen Frauen doch ausreichend Bewegung, meinte eine amerikanische Ärztin noch 1889.
4800 Frauen in London
Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, 1896 in Athen, durften Frauen nur zuschauen. Der Gründer des Internationalen Olympischen Komitees, Baron de Coubertin, erklärte: «Olympische Spiele sind ein Ausbund männlicher Athletik, und der Beifall der Frauen ist deren Lohn.» Über Jahrzehnte eroberten sich Frauen dann die Spielfelder und Sportplätze. Fast alle Sportarten sind heute auch für Frauen olympisch: Sie rudern seit 1976, treten im Siebenkampf seit 1984 gegeneinander an, spielen seit 1996 Fussball, seit 2000 heben sie Gewichte, und in diesem Jahr durften sie zum ersten Mal im Boxring gegeneinander antreten.
Immerhin formal hat sich die Frau aus ihrer körperlichen Unmündigkeit befreit. 4800 von 10 500 Teilnehmern bei den Olympischen Spielen in London waren weiblich, rechnerisch scheint der Gender Gap nahezu überwunden. Dass es immer noch mehr Wettbewerbe für Männer gibt, ist vielleicht kleinlich, dennoch: «Sport ist eines der letzten Sozialsysteme, die die Geschlechterhierarchie und die systematische Exklusion der Frauen bis ins 21. Jahrhundert haben vollziehen können», sagt die Soziologin Hartmann-Tews. «Das hat damit zu tun, dass Sport ein körperbetontes Sozialsystem ist, also die Biologie eine zentrale Rolle spielt.»
«Du wirfst wie ein Mädchen»
Die Biologie. Ja klar, da kann jetzt niemand was dafür. Männer sind in der Regel grösser und stärker, haben eine andere hormonelle Konstitution, einen anderen Muskelaufbau, können daher attraktiver Fussball spielen, schneller laufen, höher springen, weiter werfen. «Du wirfst wie ein Mädchen», ist im Schulunterricht eine Beleidigung für jeden Jungen. Der Sport reagiert auch auf die vermeintliche Schwächlichkeit der Frau: Sie bekommt einen leichteren Diskus, eine leichtere Kugel, einen kürzeren Speer. Und die Frauen treten – mit wenigen Ausnahmen wie beim Reiten, Segeln, Mixed im Tennis – getrennt von den Männern gegen ihresgleichen an. Ist das denn noch zeitgemäss im Sinne der Gleichberechtigung?
Eine Frau kann heute ein Unternehmen leiten, vielen Männern vorstehen, ihnen Befehle erteilen. Sie kann als Soldatin in den Krieg ziehen und an vorderster Front mitkämpfen. Aber sie kann nicht Olympiasieger werden. Nur Olympiasiegerin. Könnte man nicht statt der Geschlechtertrennung auch ganz andere Kategorien finden? Ilse Hartmann-Tews wagt ein Gedankenspiel: «Warum lässt man nicht grosse Frauen mit grossen Männern Basketball spielen und kleine Frauen mit kleinen Männern?»
Natürlich steht die Trennung der Geschlechter im Leistungssport nicht wirklich auf dem Prüfstand. Zu deutlich sind in der Regel die körperlichen Unterschiede. Allerdings: Aufsehen erregte 2003 das Angebot des italienischen Fussballclubs AC Perugia: Der Präsident wollte die deutsche Nationalspielerin Birgit Prinz verpflichten – für das Männerteam der Serie A. Birgit Prinz lehnte ab. Möglicherweise war das Ganze auch bloss ein Marketing-Gag des Vereins.
Dass das System der Geschlechterseparierung dennoch ernsthaft ins Wanken geraten kann, beweist der Fall der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya. Bei ihrem WM-Sieg über 800 Meter in Berlin im Jahr 2009 fiel den Medien ihre maskuline Erscheinung auf. «Ist diese Weltmeisterin ein Mann?», fragten sie. Eine für die Läuferin demütigende Debatte begann. Ist sie Mann, Frau, intersexuell? Hat sie nicht Leistungsvorteile, wenn ihr Körper mehr männliche Hormone produziert? Der Internationale Leichtathletik-Verband ordnete die Überprüfung ihres Geschlechts an, das Ergebnis ist bis heute – Gott sei Dank! – geheim. Fast ein Jahr blieb unklar, ob Semenya je wieder starten darf.
Eine Frau hat eine Frau zu sein
Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt, Semenya darf wieder das tun, was sie erfolgreich kann: schnell rennen. In London gewann sie die Silbermedaille über 800 Meter bei den Frauen. Es zeigt sich aber: Sobald im Sport etwas nicht eindeutig ist, wird es fies und problematisch. Eine Frau hat eine Frau zu sein und auch so auszusehen – sonst wird ihre Geschlechtszugehörigkeit angezweifelt. Oder sie ist gedopt, denn leistungssteigernde Mittel haben bei Frauen in der Tat virilisierende Wirkung.
Die öffentliche Wahrnehmung leistet mit ihren Mutmassungen und Unterstellungen einen wichtigen Beitrag zur Trennung des Sports in zwei Spielfelder. Sportlerinnen müssen sich seit den Olympischen Spielen 2000 zwar keiner Geschlechterüberprüfung mehr unterziehen, die Medien jedoch springen gern in diese Lücke. Und wenn es mal nicht um Doping, Intersexualität oder Homosexualität geht, werden stattdessen das äussere Erscheinungsbild oder der Partner der Sportlerin unter die Lupe genommen.
«Sportlerinnen werden in der Berichterstattung viel weniger in Aktion, in kämpferischen Auseinandersetzungen dargestellt, sondern viel häufiger in aussersportlichen und privaten Situationen», sagt die Genderforscherin Hartmann-Tews. Und: «Nur 15 Prozent der Sportartikel und Fotos in den Zeitungen berichten über Frauensport.»
Dass die Saison der Fussballerinnen mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit beginnt, wundert da nicht. Beim Herrenfussball wäre das undenkbar. «Die Medien verstärken die Vorstellung, dass Sport Männersache ist», sagt Hartmann-Tews. Diese Ignoranz habe Folgen. Mädchen und jungen Frauen werde früh klar, dass sie in ihren jeweiligen Disziplinen den Männern immer hinterherlaufen – was Wahrnehmung, Akzeptanz, Ruhm betreffe. Und auch finanziell stehen sie schlechter da: Laut «Sports Illustrated» befindet sich unter den Top 50 der Spitzenverdiener im Sport nur eine Frau: die Tennisspielerin Maria Scharapowa. Zudem teilen Männer die Jobs im Sport – ob Funktionäre, ob Trainer – mehr oder weniger unter sich auf.
«Der Sport könne dazu
beitragen, dass sich
die Geschlechterrollen annähern.»
Die Sportlerin hat also mehrere Wettbewerbsnachteile. Natürlich darf man aber nicht vergessen, dass wir hierzulande auf hohem Niveau klagen. Schaut man zum Beispiel in muslimische Länder, sieht man, dass dort noch Vorstellungen vom Frauensport aus dem 19. Jahrhundert gängig sind. Immerhin bewirbt sich Katar für die Olympischen Spiele 2024 mit einem Imagefilm, in dem muslimische Frauen Basketball spielen, Rad fahren, sprinten. Es scheint, als fände hier ein kleiner Leistungssprung im Denken über Frauensport statt.
Frauensport lebt von Inszenierung – und leidet darunter
Liegt im Sport also nicht auch die Chance, bestehende Geschlechterrollen aufzubrechen und auf die Gesellschaft zurückzuwirken? Ilse Hartmann-Tews bejaht das, die Vorbildfunktion von Sportlern und Sportlerinnen sei enorm. Der Sport könne dazu beitragen, dass sich die Geschlechterrollen annähern. «Doch das Sportsystem selbst tut sich schwer und verstärkt durch Regeln und mediale Inszenierung die Geschlechterklischees.»
Der Frauensport, wie wir ihn heute oft präsentiert bekommen, lebt zu einem Grossteil von dieser Inszenierung – und leidet darunter. Bis vor Kurzem galt beim Beachvolleyball der Frauen ein Dresscode: Das Bikinihöschen am Bein durfte nicht breiter als sieben Zentimeter sein. Bei den Spielen in London wurde diese Regelung aufgehoben – dennoch spielten fast alle Frauen im knappen Bikini. Würden sie in Fussballbuxen und Schlabbershirts spielen, wäre das Interesse an ihrem Sport sicher deutlich geringer. Da könnten sie dann noch so schön schmettern.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12