«Immer wieder werden Kinder wegen ihrer Allergie gemobbt»

Schwere Allergien sind für die betroffenen Kinder eine grosse Belastung, weiss Angelica Dünner vom Verein Erdnussallergie und Anaphylaxie. Doch einfache Massnahmen erlauben den Kindern den Schulbesuch und ein Leben unter Gleichaltrigen.

Angelica Dünner ist Präsidentin der Patientenorganisation VEAA (Verein Erdnussallergie und Anaphylaxie) und selbst Mutter eines Jungen mit schwerer Erdnussallergie.

(Bild: PABLO FACCINETTO )

Schwere Allergien sind für die betroffenen Kinder eine grosse Belastung, weiss Angelica Dünner vom Verein Erdnussallergie und Anaphylaxie. Doch einfache Massnahmen erlauben den Kindern den Schulbesuch und ein Leben unter Gleichaltrigen.

In Lausen wird wegen zwei allergischen Kindern die gesamte Primarschule nuss- und erdnussfrei. Für beide Kinder stellen Nüsse und Spuren davon eine lebensbedrohliche Gefahr dar. Wir haben eine der betroffenen Familien besucht, um zu erfahren, wie es sich mit einer extremen Lebensmittelallergie lebt.

Der Verein Erdnussallergie und Anaphylaxie (VEAA) ist eine anerkannte Patientenorganisation und setzt sich in der Schweiz für die Anliegen von Familien und Allergikern ein, bietet Schulungen im Umgang mit Anaphylaxie an und bietet Hand zur Selbsthilfe für Betroffene. Wir wollten von Vereinspräsidentin Angelica Dünner wissen, wie weit verbreitet solche extremen Fälle sind und welche Folgen das für die Betroffenen und ihr Umfeld hat.

Frau Dünner, das Schicksal der Familie Bracher ist ein Extremfall, nicht wahr?

Es ist ein schwerer Fall, doch bei Weitem nicht der einzige in der Schweiz. Aussergewöhnlich ist in diesen Fällen, dass die Betroffenen, wie Brachers Tochter Elena, auch über die Luft reagieren und überdies auf sehr viele verschiedene Lebensmittel anaphylaktisch reagieren.

Wir haben gesehen, wie stark das Leben durch eine solche Anaphylaxie eingeschränkt wird. Sie kennen viele Betroffene. Wie gross ist die Belastung für eine solche Familie?

Für die Betroffenen ist eine Allergie mit Anaphylaxierisiko eine sehr grosse Herausforderung im täglichen Leben. Bereits die Diagnose des Schweregrads solcher Allergien ist schwierig und stellt für das Kind eine grosse Belastung dar. Oft erfolgt die «Diagnose», indem das Kind ein Lebensmittel isst und dabei anaphylaktisch reagiert, ohne dass der Familie das Risiko bekannt gewesen wäre. Danach folgen Testungen beim Allergologen. Mittels Blut- und Hauttests kann man feststellen, ob ein Kind auf ein Allergen sensibilisiert ist. Zur Diagnose, ob das Kind effektiv allergisch oder sogar anaphylaktisch reagiert, bleibt nur die Provokationstestung in einer Klinik. Bei dieser wird dem Kind ein Allergen erst in ganz kleinen Mengen, bei Vertragen dann in immer grösseren Mengen zum Essen verabreicht.

Man muss also ein kalkuliertes Risiko eingehen?

Die Kinderallergologen arbeiten mit den Eltern und dem Kind, um zu bestimmen, welches Risiko in den Tests eingegangen werden soll. Das Kindeswohl steht an erster Stelle, aber Sie können sich vorstellen, welche Belastung solche Tests für ein Kind bedeuten. Dazu kommt, dass es nur wenige spezialisierte Ärzte und deshalb lange Wartelisten gibt. Eine Familie muss also beispielsweise zwei Jahre lang auf ein Lebensmittel verzichten, bis sie Gewissheit darüber hat, wie ihr Kind darauf reagiert. Stellt man dann fest, dass ein Kind ein gewisses Lebensmittel toleriert, muss dieses auch regelmässig konsumiert werden.

Weshalb?

Eine Allergie ist eine Fehlfunktion des Immunsystems. Der Körper bekämpft dabei eine eigentlich harmlose Substanz. Deshalb muss der Körper daran erinnert werden, dass er dieses Lebensmittel verträgt. Sonst können sich weitere Allergien entwickeln.

Für Elena stellen Nüsse eine lebensgefährliche Bedrohung dar. Von wie vielen Todesfällen durch anaphylaktische Schocks sprechen wir in der Schweiz?

Auch wenn es immer mehr Kinder mit anaphylaktischer Reaktion auf Lebensmittel gibt, sind Todesfälle glücklicherweise sehr selten. Das liegt auch an der guten Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Notfälle mit Hospitalisation gibt es hingegen immer wieder. Im Zeitraum von 2007 bis 2015 wurden über das Anaphylaxieregister Nora in den angeschlossenen Ländern Deutschland, Schweiz und Österreich rund 2000 Fälle von Anaphylaxie gemeldet. Fünf davon endeten für Kinder bis 18 Jahre tödlich.

Die Primarschule Lausen wird jetzt für Elena und einen ebenfalls hoch allergischen Jungen auf nussfrei umgestellt. Auch das ist kein Einzelfall.

Wir haben Kenntnis von mindestens 70 Schulen, die über 100 von Anaphylaxie auf Nahrungsmittel betroffene Kinder unterrichten und sich entsprechend eingerichtet haben. Die Erfahrung zeigt, dass sich «nussfreie» Kindergärten oder Schulen gut umsetzen lassen. Neben dem Verzicht auf das Mitbringen von Nüssen/Erdnüssen genügen oft schon einfachste Massnahmen, wie Händewaschen und die getrennte Aufbewahrung von Zahnbürsten und Trinkbechern. Die Klassenkameraden nehmen diese Massnahmen meist sehr gut auf.

Für die betroffenen Kinder ist es doch bestimmt nicht einfach, wenn ihretwegen eine ganze Schule auf Nüsse verzichten muss?

Nein, das ist es nicht. Kein Kind mag anders sein als die anderen. Es kommt auch immer wieder vor, dass Kinder wegen ihrer Allergie gemobbt werden. Allergikerkinder haben oft nur wenige enge Freunde, die sich dafür grosse Mühe geben und viel Verständnis zeigen.

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