«In Zukunft werden Tagesschulen Standard sein»

Was in Tagesschulen investiert wird, kommt doppelt zurück. Bildungsexperte Ueli Keller erklärt, warum gerade lernschwache Schüler in Tageschulen aufblühen und wie davon die ganze Gesellschaft profitiert.

«Mit Tagesstrukturen werden Schulen zum Lern- und Lebensraum»: Bildungsexperte Ueli Keller.

Was in Tagesschulen investiert wird, kommt doppelt zurück. Bildungsexperte Ueli Keller erklärt, warum gerade lernschwache Schüler in Tageschulen aufblühen und wie davon die ganze Gesellschaft profitiert.

Herr Keller, warum sind Tagesschulen sinnvoll?

Sie können die Lern- und Lebensbedingungen im schulischen Alltag verbessern. Das ist der erste Punkt. Zweitens: Die Vereinbarkeit von Elternsein und Erwerbstätigkeit. Und schliesslich der dritte Punkt: Tagesschulen fördern die gesellschaftliche Integration. Geld verdienen ist für Eltern immer mehr ein Muss. Ihre Kinder sind in einer anregenden Umgebung und nicht sich selbst überlassen. Sie sind aufgehoben in einem pädagogischen Setting, das sie sozial integriert. Nebenbei bemerkt: Das ist speziell für Kinder mit einem hohen Bildungsbedarf oder für Einzelkinder wertvoll.

Das waren bereits einige Punkte. Nochmals zum ersten: Weshalb können Schüler in Tagesschulen besser lernen?

Mit Tagesstrukturen werden die Schulen zum Lern- und Lebensraum. Tagesschulen organisieren den Schulbetrieb reichhaltig und umfassender. Nehmen Sie das Beispiel Hausaufgaben. Hausaufgaben sind schon lange nicht mehr zeitgemäss. Sie vergrössern die Schere zwischen guten und schlechten Schülern. Während gute Schüler auch erfolgreich ihre Hausaufgaben machen, sind Schüler mit ungünstigen privaten Lernbedingungen geneigt, die Hausaufgaben sausen zu lassen. Deswegen sollten diese Aufgaben nicht zu Hause, sondern innerhalb der schulischen Tagesstrukturen erledigt werden. In anderen Ländern ist das üblich. Finnland ist bei der Pisa-Studie immer weit vorne. Dort gibt es seit Jahrzehnten nur noch Tagesschulen – und die Strategie geht auf. Es gibt dort auch ein anderes Gesellschaftsmodell: Niemand geht verloren, das ist die Maxime. Das heisst auch, dass alle mit ihren Steuergeldern die Tagesschulen ganz finanzieren. In der Schweiz lautet die Devise oft immer noch: Mit Verlusten muss man rechnen. Das können wir uns eigentlich nicht leisten, menschlich nicht, aber auch ökonomisch nicht wirklich.

Tagesstrukturen sind in Finnland kostenlos und für alle zugänglich?

Nicht nur das: Sie sind auch für alle üblich. Und das macht durchaus Sinn. In der Schweiz kosten Betreuungsangebote je nach Standort enorm viel. Deswegen kommen oft nur Kinder mit gut verdienenden Eltern in deren Genuss. Diese soziale Ungerechtigkeit ist weder kinder- noch familienfreundlich. In Basel-Stadt hat man das besser verstanden als anderswo. Hier sind die Kosten für Tagesbetreuung für alle Eltern einigermassen tragbar. Trotzdem: Die Tagesbetreuung sollte wie der Unterricht kostenlos und damit im Prinzip für alle uneingeschränkt zugänglich sein.

«Tagesschulen sind nicht nur eine Frage der Pädagogik, sondern auch eine der Ökonomie»


Ueli Keller

Das ist politisch nicht umsetzbar. Die Initiative der SP, die im Ansatz solche Forderungen vertrat, wurde 2011 klar abgelehnt.

Schauen Sie, als ich vor bald 30 Jahren mit dem Thema anfing, da waren zwei Prozent der Schulkinder in einer Tagesbetreuung. Heute sind es mindestens 20 Prozent, die von diesem Angebot profitieren. Laut einer Studie des Forschungs- und Beratungsbüros Infras hätten in der Nordwestschweiz zirka 60 Prozent der Eltern einen Bedarf an Betreuungsplätzen für ihre Kinder. Nicht alle für fünf Tage in der Woche, aber im Schnitt für zwei bis drei Tage. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen. In 20 bis 30 Jahren werden Tagesschulen der Standard sein. Und zwar kostenlos und zunehmend üblich für alle. Davon bin ich überzeugt.

Das klingt utopisch. Warum sind Sie sich da so sicher?

Schlussendlich ist es nicht nur eine Frage der Pädagogik, sondern auch eine Frage der Ökonomie, die gesellschaftliche Prozesse nun einmal massgeblich steuert. Der liberale Ökonom Beat Kappeler meint dazu, dass jeder in Tagesbetreuung investierte Franken irgendwann doppelt zurückkommt. Infras schätzt sogar, dass jeder Franken vierfach zurückkommt. Leider werden diese Einschätzungen zu wenig ernst genommen. Und das vor allem, weil man ein Familienmodell retten will, das auch in der Schweiz schon länger gar nicht mehr das einzig übliche ist.

Jeder Franken kommt doppelt oder vierfach zurück? Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Zum Beispiel durch mehr Steuern, die durch mehr erwerbstätige Eltern bezahlt werden. Oder dadurch, dass der Wirtschaft kostenaufwendig qualifizierte Fachkräfte gewinnbringend erhalten bleiben. Oder mit Menschen, die – dank Tagesschulen fachlich und persönlich gestärkt – weniger Sozialkosten verursachen.

Was entgegnen Sie denjenigen, die ihre Kinder partout nicht auf eine Tagesschule schicken wollen? Soll man diese Familien dazu zwingen, ihre Kinder im Hort zu deponieren?

Es geht nicht darum, Eltern zu etwas zu zwingen, was ihren Kindern nicht dient. Wir alle, Betreuungs- und Lehrpersonen, Eltern, Schulleitungen, Behörden und Politik sind auch im Bildungsbereich immer wieder aufs Neue gefordert, Bedingungen zu schaffen, die für alle bestmöglich geeignet sind.

Ueli Keller, 66, kennt Tagesschulen wie kein Zweiter. Er organisierte zahlreiche Exkursionen an Schulen in ganz Europa und weiss, wie die länderspezifischen Schulmodelle funktionieren. Lange arbeitete er als Lehrer und Heilpädagoge und war zuletzt wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Erziehungsdirektion Basel-Stadt, wo er unter anderem für den Bereich Tagesstrukturen zuständig war. Keller ist Mitbegründer des schweizerischen Netzwerks Bildung & Architektur und engagiert sich im Vorstand des Schweizerischen Verbandes für schulische Tagesbetreuung. Seit Juli 2012 sitzt er für die Grünen im Einwohnerrat Allschwil.

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