Trotz zunehmend benötigter Unterstützung durch die IV glauben Fachleute nicht, dass die Schweizer Jugendlichen immer kränker werden. Der immer härter werdende Arbeitsmarkt fordert aber Anpassungen der Integrationsbemühungen.
Als Niklas Baer Anfang Februar des letzten Jahres vor die Medien trat, wusste er, dass seine Daten für Diskussionen sorgen würden. Sie hatten ja bereits ihn selbst betroffen gemacht.
Ein Team der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in dem der Leiter der Baselbieter Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation mitarbeitet, hatte herausgefunden, dass in der Schweiz immer mehr junge Menschen finanzielle Unterstützung der IV beantragen, weil sie psychische Probleme haben.
Eine Analyse der IV-Daten zeigte, dass sich seit 1995 die Zahl junger IV-Bezüger mit psychiatrischer Diagnose fast verdreifacht hatte – auf aktuell rund 1300 Fälle pro Jahr. Dies erschien besonders beunruhigend vor dem Hintergrund, dass die IV auch aufgrund verstärkter Integrationsbemühungen und einer restriktiveren Berentungspraxis immer weniger Menschen berentete.
«Integration ist wichtiger als Berentung.»
Schweizweit nahmen die Medien die Resultate des OECD-Berichtes auf und fragten: Wird die Schweizer Jugend immer kränker?
Baer glaubte das schon damals nicht. Einerseits, weil sich psychische Störungen in der Bevölkerung nicht häuften, und andererseits, weil das Phänomen in allen OECD-Staaten auftrat und psychische Erkrankungen meist eine längere Vorgeschichte haben.
Für Baer schien wahrscheinlicher, was später auch die Forschung bestätigte: Keine Arbeit oder die Aussicht auf eine Zukunft ohne Arbeit belastet heute manche junge Menschen psychologisch stark und kann zu temporären Problemen führen. Aus diesem Grund meint Baer: «Integration ist wichtiger als Berentung.»
Ohne Lehrabschluss droht eine schwierige Zukunft
Die erste grosse Herausforderung stellt für viele Jugendliche der Eintritt ins Erwerbsleben dar. Für viele sei dieser Übergang eine verhängnisvolle Hürde, sagt Baer, der bereits in den 1990er-Jahren als junger Psychologe ein Eingliederungsprogramm leitete. Arbeit ist für Menschen mehr als blosses Geldverdienen. Sie stiftet Lebenssinn, gibt Halt und Struktur und ermöglicht sozialen Kontakt.
Doch die Integration in den ersten Arbeitsmarkt ist heute schwieriger als noch vor zehn Jahren. Dies hat einerseits mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Die Anforderungen seien gestiegen, sagen Psychiater, Vertreter von Eingliederungsbetrieben und der IV unisono.
Gleichzeitig wird es immer schwieriger, als junger Mensch ohne Lehrabschluss eine Stelle zu finden. Gemäss Bundesamt für Statistik betrug die Erwerbslosenquote bei Leuten ohne Berufsabschluss 2002 noch 4,6 Prozent, Ende 2014 war sie mit 9,6 Prozent mehr als doppelt so hoch. Das gilt auch für die Region Basel. Hier wächst die Wirtschaft zwar stetig, doch die Zunahme an Erwerbstätigen ist vergleichsweise bescheiden.
Förderprogramme gegen die Arbeitslosigkeit
Im Jahr 2006 lancierte das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) gemeinsam mit dem Bund, den Kantonen und Partnern aus der Wirtschaft das Case Management Berufsbildung (Gap). Anlass war die damals besonders hohe Jugendarbeitslosigkeit. Im Kanton Basel-Stadt waren zeitweise bis zu zwölf Prozent der Jugendlichen bei der Sozialhilfe angemeldet. Mit Gap wurde ein Programm geschaffen, welches die Jugendlichen durch Koordinationsleistungen beim Abschluss einer Lehre oder einer Mittelschule unterstützt.
2008 startete Gap in Basel – und war sofort gefordert. In den Folgejahren stiegen die Fallzahlen kontinuierlich an. 2013 unterstützten die Case Manager über 1000 Basler Jugendliche beim Abschluss einer Erstausbildung. Ein Evaluationsbericht zeigt, dass dies zwar grundsätzlich erfolgreich geschieht, dass allerdings gerade bei psychischen Problemen besonders viel Geduld gefragt ist.
«Der Wille zur Zusammenarbeit ist bei uns zentral.»
«Compliance, der Wille zur Zusammenarbeit der Jugendlichen ist bei uns zentral», sagt der Basler Gap-Leiter Benedikt Arnold. «Wer gibt in dem Alter schon gerne zu, dass er traurig ist? Und wer spricht gerne mit einem Erwachsenen darüber?»
Gerade wenn verschiedene Problemlagen wie Lernschwierigkeiten oder familiäre Turbulenzen gleichzeitig aufträten, drücke das auf die Psyche der Jugendlichen. «Viele haben in diesem Alter verstimmte Episoden», sagt Arnold. «Dann sind professionelle Hilfe durch Dritte, eine Tagesstruktur sowie soziale Einbettung besonders wichtig.»
Auf die Arbeit mit psychisch Erkrankten ist in Basel die Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (GAW) spezialisiert. Das Unternehmen bietet rund 200 geschützte Arbeits- und Ausbildungsplätze gerade auch für junge Menschen mit psychischen Problemen an.
Wichtiger Faktor Zeit
Auch Heinz Eckardt, Leiter Coaching und Wohnen bei der GAW, betont die Wichtigkeit von Orten, die Sicherheit, Entwicklungsmöglichkeiten und stabile soziale Kontakte bieten. Daneben spiele auch der Faktor Zeit eine Rolle. «Wir betreuen die Leute über zwei bis drei Jahre. Kürzlich hatten wir jemanden bei uns, der in zehn Jahren in 15 Jobs scheiterte. Erst heute, zwölf Jahre nach der ersten Berufsausbildung, scheint er fit genug für den Arbeitsmarkt zu sein.»
Häufig existiere das Bild des «Idealbehinderten, dem man einen etwas anderen Tisch und einen anderen Stuhl gibt und etwas mehr Zeit», sagt Eckardt, «doch so einfach ist das nicht».
Als mögliche Antwort darauf testet die GAW das sogenannte Supported-Education-Modell. Dabei absolvieren betroffene Jugendliche zwar eine Lehre in einem Betrieb der freien Wirtschaft, erhalten aber durch Coaching, Stützkurse oder Krisenintervention Unterstützung.
Gemäss Eckardt ist das Programm in Zusammenarbeit mit Detailhandelsbetrieben gut angelaufen. Wichtig sei allerdings eine längere Zusammenarbeit.
Auch für Olaf Meiburg, Bereichsleiter Integration der IV Basel-Stadt, ist Supported Education ein Zukunftsmodell: «Es muss realistisch sein, dass die Ausbildung trotz der behinderungsbedingten Einschränkung erfolgreich abgeschlossen werden kann und die nachfolgende Integration in den ersten Arbeitsmarkt möglich ist.»
Immer mehr Junge finden Unterstützung
Meiburgs Stelle bietet immer mehr jungen Erwachsenen Unterstützung. Machten 2003 noch 258 Personen eine Erstausbildung auf Kosten der Basler IV, so waren es 2013 bereits 365. Dabei gelang es auch, den Anteil der erfolgreich Integrierten zu erhöhen. Meiburg versteht die IV denn auch als eine «Integrationsversicherung».
Seine Behörde arbeitet mit Erfolg. In Basel-Stadt ist die Zahl junger Menschen, die aus psychischen Gründen eine IV-Rente beziehen, in den letzten zehn Jahren vergleichsweise stabil geblieben. Meiburg sieht auch in den «kurzen Wegen» einen Standortvorteil. Die runden Tische, an denen sich Betroffene und Eltern mit Klassenlehrern, dem Schulpsychologischen Dienst und Fachpersonen der IV treffen, seien sehr wichtig. Häufig fänden derartige Treffen heute bereits bei 14-Jährigen statt.
«Vielen fehlen die realen sozialen Netzwerke, die tiefgründigen zwischenmenschlichen Kontakte.»
Doch trotz der erfolgreichen Integrationsbemühungen gibt sich Meiburg vorsichtig. Viele junge Menschen seien schlicht überfordert, weil ihnen im Elternhaus oft die notwendige Unterstützung nicht gegeben werden kann. «Persönlichkeitsstörungen treten bei haltlosen Jugendlichen häufiger auf. Vielen fehlen die realen sozialen Netzwerke, die tiefgründigen zwischenmenschlichen Kontakte. Sie lernen so nicht, Konflikte auszutragen und haben weniger Energiequellen auf persönlicher Ebene.» Für Meiburg sind das tief liegende Probleme der «Wohlstandsgesellschaft».
Auch für Niklas Baer ist das Problem der psychisch beeinträchtigten Jugendlichen «erst thematisiert», aber noch lange nicht erklärt und gelöst. Die Erkenntnisse aus der OECD-Studie flossen in die Ende Februar beschlossene kostenneutrale IV-Reform des Bundesrats, nach der mehr Mittel für Eingliederungsmassnahmen aufgewendet werden sollen.
Baer bleibt – zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften – am Thema dran. Denn die Zahlen haben erst gezeigt, wie viele Schweizer Jugendliche psychische Probleme haben. Nun will man herausfinden woran sie genau leiden.