Der Bischof von Chur fordert, der Bürgler Pfarrer Wendelin Bucheli solle wegen der Segnung eines lesbischen Paares seine Gemeinde verlassen. Dagegen formiert sich in Uri ein regelrechter «Katholikenaufstand». Ausgerechnet die konservativen Urner lehnen sich im Verbund mit Homosexuellen gegen die Kirchenobrigkeit auf? Eine Analyse.
Sonntag, 15. Februar, in Bürglen. «Achtung, freilaufende Bürgler», mahnt ein fingiertes Verkehrsschild im Dorfkern der Urner Gemeinde. Was Einheimische mit einem Augenzwinkern abtun – es herrscht schliesslich Fasnacht im 4000-Seelen-Dorf –, hat sich für das Bistum Chur in den vergangenen Tagen zur ernst zu nehmenden Drohung entwickelt. Eben jene Bürgler nämlich, von denen das Schild augenzwinkernd warnt, machen dem Bistum seit Tagen das Leben schwer. Indem sie sich wehren. Gegen die Weisung aus Chur. Und kämpfen. Für ihren Pfarrer Wendelin Bucheli.
Dieser hatte im Oktober des vergangenen Jahres einem lesbischen Paar den Segen erteilt und soll – als Strafe für das Vergehen gegen das Kirchenrecht – nun von sich aus die Gemeinde verlassen. So wollen es Bischof Vitus Huonder, Leiter des Bistums Chur, und Charles Morenrod, Bischof von Lausanne, wo Bucheli zum Pfarrer geweiht wurde. Publik geworden war die Forderung in der «NZZ am Sonntag» vom 8. Februar.
Die Reaktion aus Uri folgte umgehend. Eine gleichentags lancierte Online-Petition gegen die Strafversetzung von Bucheli verzeichnete innert weniger Stunden über 1300 Unterschriften, zwei Tage später waren es bereits deren 3000.
«Zämä stah»
Auch auf der Facebook-Seite des «Urner Wochenblatts» warf die Meldung hohe Wellen. Innerhalb von 24 Stunden sahen sich über 12’500 Personen die Onlinemeldung zur Forderung aus Chur an, mehr als 60 Kommentare gingen ein – Rekord bei der grössten Urner Zeitung. Grundtenor der Reaktionen: Wendelin Bucheli hat richtig gehandelt. Nicht der Bürgler Pfarrer, sondern Bischof Vitus Huonder soll den Hut nehmen. Gleichentags zündeten rund 180 Personen an einer via Facebook lancierten «Mahnwache für Wendelin Bucheli» eine Kerze für den Bürgler Pfarrer an.
Widerstand leisten auch der Kirchenrat und die Einwohnergemeinde Bürglen. Bucheli sehe keinen Grund, die Gemeinde zu verlassen, heisst es in einer Medienmitteilung. Die Behörden stünden voll hinter ihm, und: «Pfarrer Wendelin Bucheli wird in Bürglen bleiben.» Der Kirchenrat weist in einem Infoflyer ausserdem darauf hin, wie die Bürgler ihre Anliegen zum Fall deponieren können: mit einem persönlichen Brief an den Bischof oder mit einem Eintrag ins offene Gebetsbuch «Zämä stah», welches in der Kirche aufliegt.
Unterstützung erhielt Bürglen auch aus anderen Urner Gemeinden. In einem offenen Brief an Huonder baten zwölf Seelsorger den Bischof, auf seinen Entscheid gegen Bucheli zurückzukommen. Dasselbe tat auch die Junge CVP Uri. Bucheli habe «das einzig Richtige» getan, heisst es im Brief der Jungpartei an Huonder. Die Botschaft nach Chur ist klar: «Wir sind über Ihren Entscheid konsterniert.»
Knorrige Bergler gegen konservative Kirche
Inzwischen wirft der «Katholikenaufstand in Uri» weit über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus Wellen. Während diverse Organisationen wie die österreichische Pfarrei-Initiative und die Allianz katholischer Verbände «Es reicht!» das Thema politisch für ihre Zwecke nutzen, berichten Medien aus dem In- und Ausland fast im Stundentakt über Neuigkeiten rund um Bucheli und Bürglen.
Und mit jeder neuen Schlagzeile scheint das Staunen darüber zu wachsen, was da eigentlich abgeht in diesem Uri. Schliesslich ist der Kanton im Herzen und an der Wiege der Schweiz nicht gerade bekannt für seine progressive Haltung. Bei nationalen Abstimmungen zeigt sich Uri meist konservativ, in der medialen Öffentlichkeit werden Urner gerne als knorrige Bergler dargestellt und wahrgenommen. Und nun regt sich genau dort Widerstand gegen die konservative Kirche – noch dazu ausgerechnet in Bürglen am Fusse des von SVP-Wählern dominierten Schächentals.
Woher also kommt dieser Widerstand?
Tellensöhne gegen Tyrannen
Um eine mögliche Erklärung kommt man als Besucher in Bürglen nicht herum: Die Gemeinde gilt als «Tellendorf», als Heimat Wilhelm Tells, wie es auch auf einem Schild am Dorfeingang heisst. Prägnant ragt das Tellmuseum im Dorfzentrum empor, über dem Dorfbrunnen prangt Tell als Figur, man besucht die Tellskapelle, trifft sich im Café Tell zu Bier und Kaffee. Nicht zu vergessen das Telldenkmal im Urner Hauptort, die berühmte Tellskapelle am Urnersee. Kurzum: Der Schweizer Freiheitsheld ist in Uri omnipräsent, erst recht in Bürglen. Haben die Urner Tell also gewissermassen im Blut? Wollen die Bürgler – auch Tellensöhne genannt – es ihrem Helden gleichmachen und bieten drum der Obrigkeit in Chur die Stirn?
Diese Erklärung liegt nah. Der Verweis auf Tell wird auch in einem Leserbrief im «Urner Wochenblatt» gemacht. Darin schreibt Reto Röthlin, der Bürgler Pfarrer verkörpere jene Eigenschaften, welche den Mythos der Tellgeschichte ausmachen. «Wilhelm Tell hat eine Weisung missachtet, welche damals wie heute als absurd betrachtet wird», hält er fest, und fragt: «Was wäre geschehen, hätte er brav, wie ihm befohlen, den Hut gegrüsst?» Er wünsche sich «von uns Bürglern» in der Sache den «beharrlichen und aufrichtigen Gang eines Tells», schreibt Röhtlin weiter.
Auch Paul Kleiner aus Attinghausen hält in einem Leserbrief fest, dem Volk von Bürglen habe der Bischof die Augen geöffnet, «und die Bürgler stellen sich, als wahre Tellensöhne und –töchter, gegen den herrschsüchtigen Tyrannen».
Oftmals aber wird der Tellmythos von eben jenen als Erklärung herangezogen, welche die Urner gemeinhin als konservatives Volk wahrnehmen und als solches kolportieren – allen voran die nationalen Medien. Das historische Erbe rund um Tell mag wohl einen Teil des Widerstandes gegen die Weisung aus Chur ausmachen – schliesslich gelten die Urner nicht umsonst als stur, auch was politische Anliegen angeht (man denke an die Diskussion rund um die zweite Gotthard-Röhre und die Alpeninitiative). Als Grund für progressives – und demnach für die öffentliche Wahrnehmung «ungewöhnliches» – Verhalten einzig den Tellmythos zu bemühen, ist jedoch so blind wie anmassend.
Gegen Diskriminierung Homosexueller
Wenn nicht (nur) Tell beim Widerstand mitschwingt: Liegt den Urnern womöglich die Toleranz gegenüber Homosexuellen besonders am Herzen? Immerhin zeigt sich die Junge CVP in ihrem offenen Brief an Huonder ausdrücklich bestürzt darüber, dass das Bistum Chur noch im Jahr 2015 Homosexuelle «rabiat diskriminiert und ausgrenzt».
Im Gebetsbuch für Bucheli ist ausserdem in einem Beitrag zu lesen, die Diskriminierung der katholischen Kirche gegenüber Homosexuellen müsse endlich aufhören. «Deren Zustände sind mittelalterlich.» Und auch in zahlreichen Leserbriefen von Urnern in der Lokalpresse kommt zum Ausdruck, dass man die Segnung des lesbischen Paares für richtig hält. Nur wenige finden, Bucheli habe «vielleicht einen Fehler begangen», den man aber verzeihen müsse.
Auf nationaler Ebene haben sich Schwulen- und Lesbenorganisationen zwar bereits zu den Geschehnissen in Bürglen geäussert. Der Tenor: Bischof Vitus Huonder ist nicht mehr tragbar – eine Haltung allerdings, welche in homosexuellen Kreisen schon lange vor dem Fall Bürglen eigenommen worden war. Dass die nationalen Organisationen die Geschichte rund um Wendelin Bucheli auf ihren Websites oder Social-Media-Plattformen aufgenommen haben, dürfte denn auch der Online-Petition – in der Zwischenzeit haben über 36’000 Personen unterschrieben (siehe Kasten) – Auftrieb gegeben haben.
Im Kanton Uri jedoch sind Homosexuelle nicht organisiert. Genauer: nicht mehr. «Die Akzeptanz homosexueller Personen ist heute viel weiter als noch vor zehn Jahren», sagt Alex Inderkum, Urner SP-Landrat und Gründungsmitglied der LesBiSchwulen Gruppe Uri, die seit rund zehn Jahren auf Eis liegt. Viele Homosexuelle in Uri – Inderkum selber kennt zwischen 40 und 50 Personen – seien, wie er selber, bereits aus der Kirche ausgetreten. «Aus Protest gegen eben jene konservative Haltung, wie sie Vitus Huonder vertritt», so Inderkum. Nun würden sich traditionelle Kirchgänger mit der Gaycommunity verbünden, da sie einen «gemeinsamen Feind» haben: «Beide wollen Huonder nicht mehr als Bischof sehen. Einfach aus unterschiedlichen Beweggründen», so Inderkum.
Hirte statt Herr
Dass der Widerstand aus Uri nur in der Ablehnung des Churer Bischofs und der konservativen Haltung der Kirche gründet, ist jedoch unwahrscheinlich. Andernfalls wäre der Widerstand schon früher laut geworden, zumal Huonder in der Vergangenheit mit seiner Haltung bereits unter dem Druck der Öffentlichkeit stand.
Neu hingegen ist – und hier liegt der Hund begraben –, dass sich Bucheli in Bürglen als Pfarrer erwies, der andere Wege geht, schon vor der Segnung des lesbischen Paares. «Er wird als Hirte wahrgenommen, der Hilfe anbietet und sich um das Wohl seiner Herde sorgt, nicht als Herr, der jedem sagt, was er zu tun und zu lassen hat», sagt Peter Vorwerk, Vizepräsident des Kirchenrats Bürglen. So habe Bucheli es geschafft, dass Gottesdienste und das kirchliche Leben im Dorf wieder mehr Zulauf erhalten. «Und das, wo gerade bei den Jugendlichen andernorts eher eine Abkehr von der Kirche festzustellen ist», so Vorwerk weiter.
«Ein Pfarrer, der die Menschen nimmt, wie sie sind.» Gebetsbuch zur Unterstützung von Wendelin Bucheli in der Bürgler Kirche. (Bild: Carmen Epp)
«Alle Kinder und Jugendlichen mögen Pfarrer Bucheli sehr», schreiben auch Erika und Reto Zanini-Brun in einem Leserbrief im «Urner Wochenblatt». Sie hätten das erlebt bei ihren Söhnen. Bucheli habe sie gewissenhaft auf die Kommunion und die Firmung vorbereitet. «Er hat ihnen echte Werte vermittelt und vorgelebt.»
Im Pfadilager habe er die Jugendlichen begleitet, beim Sternsingen die Kinder gesegnet. «Bucheli spricht ihre Sprache und kann sie auf diese Weise unbewusst zu gläubigen Katholiken formen», heisst es weiter. Auch im Gebetsbuch finden sich zahlreiche Voten zu Buchelis Qualitäten als Pfarrer. «Es ist toll, dass Bürglen einen solchen Pfarrer hat, der die Menschen nimmt, wie sie sind», ist etwa zu lesen. Jemand schlägt Bucheli gar als «Schweizer des Jahres» vor. «Er ist absolut unser Held.»
Standing Ovation für «einen von uns»
So wird er denn auch gefeiert, an diesem Sonntag, 15. Februar, in der Pfarrkirche von Bürglen: Rund 300 Gläubige erheben sich von den Kirchenbänken, klatschen in die Hände, ein freudiger Jutz schallt durch den Ort der Stille, «Bravo!»-Rufe ertönen aus den Reihen. Es ist der Tag, an dem sich Wendelin Bucheli im Anschluss an die Messe zum ersten Mal öffentlich zu den Rücktrittsforderungen aus Chur äussert.
Er präsentiert ein Hirthemd, das er von der Pfarrei bei seiner Pfarrinstallation als Geschenk erhalten hat. «Das war für mich damals ein Zeichen, dass die Gläubigen hier einen Pfarrer wünschen, der ihr Hirte ist», sagt Bucheli. Die Urner hätten ihn gelehrt, was ein guter Hirte ist: einer, der alles daran setze, dass seine Herde nicht verletzt wird oder Wunden davon trägt, die noch Jahre eitern.
Die Bürgler und Urner werdens ihm danken und um ihn kämpfen. «Unser Pfarrer soll als Bauernopfer hinhalten», sagt Vorwerk. «Und das lässt man sich nicht bieten.» Nicht weil die Bürgler Tell im Herzen tragen oder Homosexuellen gegenüber besonders offen gegenüber stehen würden. Sondern weil Bucheli mit seiner Art von einem «Fremden» zu einem von ihnen, zu «yysernä äinä», wie wir Urner sagen, geworden ist. Die «freilaufenden Bürgler», von denen das Fasnachtsschild warnt, haben einen Hirten gefunden, um den sie kämpfen – das hat weniger mit dem Urner Volkscharakter zu tun, sondern mit einem Pfarrer, den die Menschen gern haben.
Die auf der Onlineplattform Avaaz gestartete Petition «Bucheli muss bleiben» wurde am 8. Februar von einem Bürgler lanciert. Inzwischen (Stand Mittwoch, 18.2.2015) haben über 37’000 Personen unterschrieben. Dass nicht alle Unterschriften aus Uri stammen, liegt auf der Hand; der Kanton zählt weniger als 36’000 Einwohner. Einer Auswertung der Petition zufolge stammen 600 der Stimmen aus Bürglen – das sind 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Bürglens.
Die nominell meisten Unterschriften aus Uri stammen aus Altdorf. Im Urner Hauptort unterzeichneten 750 Personen oder 8,7 Prozent die Petition. Prozentual ähnlich viele Stimmen kamen auch aus den Bürgler Nachbargemeinden des Schächentals, Spiringen mit 8,5 und Unterschächen mit 8,2 Prozent.
Nachdem die Petition zunächst vor allem in Uri geteilt und unterzeichnet wurde, wurde sie auch ausserhalb des Kantons verbreitet. So trieben die Schweizer Städte die Zahl der Stimmen entscheidend in die Höhe. Die meisten Unterschriften – deren 2160 – stammen allein aus der Stadt Zürich. Damit übertrifft die Unterschriftensammlung zugunsten des Pfarrers die Aktion «Keine Musikwüste in Basel», mit der ein Bleiberecht für die Musiker gefordert wurde.
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Carmen Epp ist in Uri geboren und aufgewachsen. Bis 2015 arbeitete sie als Journalistin beim «Urner Wochenblatt», heute ist sie in einem Teilzeitpensum als Redaktorin bei der «Tierwelt» und als freischaffende Journalistin tätig.