«Kein Leben für die Ewigkeit»

Vor Kurzem wurde im Raum Basel ein weiterer Fall von Lohndumping publik. Einer der Betroffenen war Ferenc Lörinc. Wir haben ihn in seiner Heimat in Ungarn besucht.

(Bild: Simon Jäggi)

Vor Kurzem wurde im Raum Basel ein weiterer Fall von Lohndumping publik. Einer der Betroffenen war Ferenc Lörinc. Wir haben ihn in seiner Heimat in Ungarn besucht.

Ferenc Lörinc ist einer von vielen. Während fast eines Jahres arbeitete er als Gipser im Raum Basel. Seine Arbeitsbedingungen widersprachen fast jeder gesetzlichen Bestimmung.

Er schuftete für 16 Franken pro Stunde, allem Anschein nach ohne jede Sozialversicherung. Zusammen mit weiteren Ungaren war er in einer überzahlten Wohnung im deutschen Efringen-Kirchen in der Nähe von Lörrach einquartiert. Die Miete zog ihnen der Arbeitgeber direkt vom Lohn ab.

Jeden Morgen setzten sich Ferenc und seine beiden Arbeitskollegen ins Auto und fuhren über die Grenze zur Arbeit in der Schweiz. In den letzten vier Monaten arbeitete er auf einer Baustelle des Kantons Basel-Stadt, bis er merkte, dass sich sein Arbeitgeber nicht an das Gesetz hält, und kündigte.

Seit einer Woche ist Ferenc wieder zurück in Ungarn. Er sitzt am Steuer seines grün leuchtenden Kleinwagens, der kräftige Körper steckt in einem weissen Polohemd und kurzen Shorts. Zu seiner Rechten sitzt Ilona, seine Frau. Die Besuche ihres Mannes sind für die zierliche Coiffeuse mit den wasserstoffblonden Haaren zur Seltenheit geworden.

Wir fahren bei laufender Klima­anlage über die Autobahn, vor dem Fenster leuchten weite, unbewohnte Flächen in der Mittagssonne, im Rückspiegel verschwindet das Flughafengebäude hinter den Bäumen. Es bleiben knappe zehn Stunden, um etwas mehr über diesen Mann zu erfahren. Was für ein Leben er mit seiner Familie in Ungarn führt. Weshalb er seine Heimat immer wieder aufs Neue verlässt – und was er über das Schattendasein der Dumpinglohn-Arbeiter in der Schweiz weiss.

«Die Baubranche in Ungarn ist tot.»

«Schau», sagt Ferenc und zeigt aus dem Fenster auf die unverbaute Landschaft, «es gibt hier keinen einzigen Baukran, keine einzige Baustelle. Die Baubranche in Ungarn ist tot.»

Ziel der Fahrt ist Szigetszentmiklós, jener Ort, den Ferenc sein Zuhause nennt. Eine schmucklose Kleinstadt, wenige Kilometer ausserhalb von Budapest an der Donau. Wir verlassen die Autobahn und setzen die Fahrt auf einer Landstrasse fort. Ein Ortsschild kündigt unser Fahrziel an. Ferenc biegt in eine Seitenstrasse ein und bringt den grünen Peugeot vor einem eingeschossigen Häuschen zum Stehen. Ein hölzerner Gartenzaun grenzt das Haus zur Strasse hin ab. Vor der Haustüre steht ein schwarzer Motorroller.

Eine Mauer trennt das Gebäude in zwei Teile. In der einen Hälfte wohnt seine Frau mit dem gemeinsamen dreijährigen Sohn Levente und ihrem älteren Sohn aus erster Ehe. Ferenc ist zu einem seltenen Gast geworden in diesem halben Haus. Vor vier Jahren hat er zum ersten Mal Land und Familie hinter sich gelassen, um im Ausland Wände zu verputzen, damals war er 36. Seither zieht er quer durch Westeuropa, von Baustelle zu Baustelle. «Mezõgazdasági vándormunkás» nennen sie Leuten wie ihn – «Wanderarbeiter».

Ferenc sitzt auf der Rückseite des Hauses, im Schatten an einem Plastiktisch. Im Wasserglas schmelzen ein paar Eiswürfel, es ist drückend heiss. Er sei einer von vielen, sagt Ferenc. In den letzten Jahren hätten die meisten seiner Freunde das Land verlassen.
Immer mehr Arbeiter aus dem ­Osten drängen auf den europäischen Arbeitsmarkt. In Ungarn hat die Auswanderung ein historisches Ausmass angenommen.

In Ungarn sind es die Rumänen, die zu Dumpinglöhnen arbeiten

György Matolcsy, der frühere Wirtschaftsminister, schätzt, dass eine halbe Million Arbeitnehmer ausserhalb der ungarischen Grenzen beschäftigt sind. Ungarn ist eines jener europäischen Länder, die am meisten von der Wirtschaftskrise betroffen sind. Die Europäische Union sei aus dem Gleichgewicht geraten, sagt Ferenc. Er selbst sieht sich als Opfer der Osterweiterung. In Ungarn würden Rumänen zu Dumpinglöhnen auf dem Bau arbeiten und so den Ungaren die Arbeit wegnehmen. Ein Ungare verdiene pro Tag umgerechnet 30 Franken, Rumänen erledigten die selbe Arbeit für 20 Franken.

Eine halbe Generation wächst in diesen Tagen in Ungarn ohne Väter auf. So auch der dreijährige Levente. Seinen Sohn so selten zu sehen, das sei schlimm, sagt Ferenc und klopft nervös mit den Fingern auf den Tisch.

Es ist früher Nachmittag und wir haben noch nichts gegessen. Wir verlassen das Haus, gehen die Strasse hinunter, biegen um eine Ecke und stehen vor Ferenc’ Lieblingsbeiz. Im «Arany Fakanal» sind die Wände holzgetäfert, die Preise auch für Ferenc günstig, und das Gulasch wird in üppigen Portionen aufgetischt.

Die meisten der Stühle sind frei. Die Menschen in Ungarn gingen nicht mehr so oft auswärts essen wie früher, sagt Ferenc. Es gebe nicht nur weniger Arbeit, seit dem EU-Beitritt im Jahre 2004 seien auch die Preise deutlich angestiegen. Während er sein Kuchenstück isst, erzählt er von seiner vierjährigen Wanderschaft.

Seine erste Station war eine Baustelle in Österreich, danach kam er erstmals in die Schweiz, wo er einen Monat lang blieb. Kurz darauf brachte seine Frau in Ungarn den gemeinsamen Sohn zur Welt. Ferenc reiste zurück in seine Heimat und fand für kurze Zeit eine befristete Anstellung in der Nähe von Budapest. Doch die Zeit zu dritt war von kurzer Dauer. Er fand keine neue Stelle, und das Geld wurde knapp. So zog er erneut los, dieses Mal in Richtung Norditalien.

«Die meisten kennen ihre Rechte nicht.»

Ferenc erzählt seine Geschichte auf Deutsch. Er formt einfache Sätze, manchmal muss er nach einem Wort suchen. Und dennoch sind seine Schilderungen präzise. Er habe in der Schule Deutsch gelernt, vieles aber wieder vergessen, entschuldigt er sich. Auf den Baustellen sprächen die Männer wenig miteinander. «Kessel» und «Kelle» seien die wichtigsten Begriffe.

Ein halbes Jahr lang arbeitete er auf der Baustelle in Norditalien einige Kilometer ausserhalb von Mailand. Er wäre gerne länger geblieben, die offene Mentalität der Italiener habe ihm gefallen. Doch in Italien fand er keine weitere Arbeit. Zum ersten Mal in seinem Leben stieg Ferenc in ein Flugzeug und flog auf die Mittelmeerinsel Ibiza, wo er auf einer Grossbaustelle angestellt wurde. Vier Monate später kehrte er aufs Festland zurück und arbeitete ein Jahr in Süddeutschland – bis er letzten Sommer in der Schweiz Arbeit fand.

Die Arbeitsbedingungen seien überall ähnlich. Die Arbeiter sind in Ferienwohnungen untergebracht, arbeiten weit über 40 Stunden pro Woche, und das zu undurchsichtigen Bedingungen. «Die meisten haben nur das Geld vor Augen», sagt Ferenc. Vielen sei es egal, ob sie versichert seien oder auch am Wochenende arbeiten müssten, «weil sie auch ihre Rechte nicht kennen». Im Gegensatz zu vielen anderen spricht Ferenc Deutsch und kennt die Gesetze. Und dennoch gibt es auch für ihn keine andere Möglichkeit, als die widerrechtlichen Bedingungen zu akzeptieren.

Keine Zukunft in Ungarn

In Ungarn sieht er für sich keine Zukunft. Als gelernter Maler sei es für ihn aussichtslos geworden, eine Arbeit zu finden. Die rund 600 Euro, die seine Frau als Coiffeuse verdiene, reichen nicht, um die Familie zu ernähren. ­Einen Teil seiner eigenen Einnahmen legt er beiseite, mit dem Rest finanziert er den Alltag seiner Familie. Insbesondere im Winter, wenn die Gasrechnung steigt, werde das Geld gelegentlich knapp, sagt Ferenc.

Die Teller sind leergegessen. Bald wird sein Sohn vom Kindergarten nach Hause kommen. Ferenc besteht darauf, das Essen für beide zu bezahlen, Widerspruch ist zwecklos. Es kostet 2000 Forint, rund acht Franken. Während wir auf einem Umweg zu seinem Haus zurückspazieren, erzählt er von seinem haushälterischen Leben im Ausland. Wie er am Abend Brot und Wurst esse, die letzten Monate ausschliesslich in Deutschland bei Lidl eingekauft habe und einzig am Wochenende manchmal etwas für sich koche. In der Schweiz leiste er sich auswärts nur seinen täglichen Kaffee. Und einmal, erinnert er sich, habe er sich an einem heissen Nachmittag für sieben Franken sogar das Gartenbad St. Jakob geleistet.

Zurück im Haus setzen wir uns vor den Computer. Ferenc zeigt mir die ungarische Internetseite, auf welcher die Stellen im Ausland ausgeschrieben sind. Hier hatte auch sein letzter Arbeitgeber für Arbeit in der Schweiz geworben. Er versprach einen Stundenlohn von 27 Franken. Doch vor Ort lösten sich die Lohnversprechen in Luft auf. Die beiden Männer, mit denen Ferenc die Wohnung teilte, verdienten mit knapp acht Franken pro Stunde halb so viel wie Ferenc.

Gemäss schweizerischem Gesamtarbeitsvertrag würde den gelernten Malern ein Stundenlohn von 32 Franken zustehen. In der Zwischenzeit hat die Gewerkschaft Unia beim ehemaligen Arbeitgeber die ausstehenden Lohnsummen eingefordert – es geht dabei um Zehntausende von Franken. Doch dieser, selber ein Ungare, weigert sich, die fehlenden Löhne zu bezahlen. Die Gewerkschaft will in einem nächsten Schritt beim Arbeitsgericht Klage einreichen.

Aufenthaltsbewilligung nicht aufs Spiel setzen

Trotz dieser unglücklichen Erfahrung will Ferenc möglichst bald wieder in die Schweiz zurückkehren und weiterarbeiten, am liebsten schon in einer Woche. Das Geld werde knapp, sagt er. Dieses Mal will er aber einen klar geregelten Vertrag. Seit ein paar Monaten hat er eine Aufenthaltsbewilligung. Und diese möchte er auf keinen Fall aufs Spiel setzen.

Das war ein weiterer Grund, weshalb er seine Arbeit gekündigt hat. Für die folgenden Tage wäre er für einen Neubau auf dem Novartis Campus eingeteilt gewesen. Auf der Grossbaustelle erwartete er verschärfte Kontrollen. Da er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr daran glaubte, dass sein Arbeitgeber alle Sozialleistungen wie vorgeschrieben bezahlen würde, entschied er sich für die Kündigung.

Ferenc liest gerade seine E-Mails, als sein Sohn Levente durch den Hintereingang das Haus betritt. Er mustert den Besuch aus der Schweiz erst mit neugierigem Blick und versteckt sich dann scheu hinter den langen Beinen seines Vaters.

Ferenc setzt sich an den Plastiktisch hinter dem Haus. Kaum hat er sich hingesetzt, klettert Levente auf seinen Schoss. «Levente ist ein Skype-Kind», sagt er mit einem traurigen Lächeln. «Davon gibt es zurzeit viele in Ungarn.» Seit Levente vor drei Jahren geboren wurde, verbrachte Ferenc rund acht Monate bei seinem Sohn. «Viel zu wenig», sagt er. Deshalb setzt er sich nach der Arbeit im Westen jeden Abend vor seinen Laptop und spricht per Internet mit seiner Familie. Levente kennt ihn vorwiegend vom Bildschirm. In der Zwischenzeit ist auch Ilona wieder zurück, sie hat im Coiffeursalon einer Frau die Haare geschnitten. Die Zahl der Kunden geht in letzter Zeit zurück. «Viele versuchen Geld zu sparen und schneiden ihre Haare selber», sagt sie. Sie bringt Wasser an den Tisch und wechselt ein paar Worte mit ihrem Mann.

Der Traum ist ein Haus in der Schweiz

Bevor es Abend wird, will Ferenc noch für einen Moment ans Ufer der Donau fahren. Vom Parkplatz aus führt ein Spazierweg unter Bäumen an dichtem Schilf vorbei. Am Ufer sitzt ein Mann und fischt nach Karpfen. Noch einmal kommt Ferenc auf die Trennung von seiner Familie zu sprechen und auch auf das einsame Leben im Ausland. Immer wieder neue Baustellen, neue Länder und neue Kollegen.

Freundschaften würden sich so keine ergeben, dafür seien die Aufenthalte jeweils zu kurz. Es sei «kein Leben für die Ewigkeit», das er führe, sagt Ferenc. Er hat ein Ziel: Er will für seine Familie ein Haus kaufen, nicht ein halbes, sondern ein ganzes für sie allein – und am liebsten in der Schweiz. Dafür spart er. In der Schweiz gebe es Arbeit und eine sichere Zukunft. Die Leute seien zufriedener als in Ungarn. Doch seine Frau wolle nicht. Sie möchte in Ungarn bleiben, in ihrem vertrauten Umfeld.

«Mit dem Kopf bin ich in der Schweiz, aber mit dem Herzen bin ich hier.»

«Komm, wir gehen zurück und dann weiter nach Budapest», schlägt Ferenc vor, als wir zu einer kleinen Brücke kommen. Zurück beim Haus steigen Ilona und Levente zu uns ins Auto. Wir stehen im Stau und erreichen nach einer halben Stunde das Zentrum der Hauptstadt.

Dort spazieren wir durch die Altstadt, Levente hält seine Eltern an den Händen. Auf Ilonas Wunsch essen wir am Rande eines Platzes in einem italienischen Restaurant Pizza. Langsam dunkelt es ein. Zeit für eine letzte Frage, bevor Ferenc sich mit seiner Familie auf den Heimweg macht, zurück in sein halbes Haus. Dieses Leben im Ausland, herumzukommen und etwas anderes zu sehen als Ungarn, gefällt ihm das nicht auch? Würde er wirklich immer hier bleiben wollen, wenn das Einkommen seiner Frau zum Leben reichte?

Das sei eine schwierige Frage, sagt Ferenc zögernd. Und auf einmal zeigt sich seine ganze Zerrissenheit. «Mit dem Kopf bin ich in der Schweiz», sagt er, «aber mit dem Herzen bin ich hier.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.07.13

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