Keine Pille zu schlucken, ist das Bitterste

Immer häufiger sind Medikamente nicht lieferbar, weil sich deren Produktion für die Pharmaindustrie nicht lohnt. Patientinnen wie Liz Isler geraten so in gefährliche Situationen.

Die MS-Patientin Liz Isler (52) leidet an Diabetes. Doch das Medikament gegen ihre Krankheit ist seit Monaten nicht mehr lieferbar. (Bild: Stefan Bohrer)

Immer häufiger sind Medikamente nicht lieferbar, weil sich deren Produktion für die Pharmaindustrie nicht lohnt. Patientinnen wie Liz Isler geraten so in gefährliche Situationen.

Die schlechte Nachricht erfährt Liz Isler von der Apothekerin auf dem Trottoir. Dort verkauft diese der 52-Jährigen Medikamente, weil Isler mit ihrem Rollstuhl die Treppe zur Apotheke nicht mehr überwinden kann. Doch diesmal kommt die Apothekerin mit leeren Händen: Das Medikament Glucophage, ein Mittel gegen Diabetes, sei nicht lieferbar. Zum Glück habe ihr Grosshändler ein Generikum mit demselben Wirkstoff an Lager, versucht sie die Kundin zu beruhigen.

Doch Liz Isler ist aufgebracht. «Das darf doch nicht wahr sein», entfährt es ihr. Denn sie leidet an einer seltenen Krankheit, dem sogenannten Lyell-Syndrom. Ihr Körper reagiert auf sehr viele Medikamente mit einer Unverträglichkeit. Die allergische Reaktion lässt ihre Haut wie verbrennen, die Krankheit befällt auch innere Organe und kann lebensbedrohlich werden.

Lebensbedrohende Allergie

Liz Isler lag deswegen schon auf der Intensivstation, einmal verlegten sie die Ärzte gar auf die Spezialabteilung für Verbrennungen nach Zürich. Jedes Medikament, das Liz Isler noch nie eingenommen hat, kann eine toxisch-allergische Reaktion auslösen. Nur schon ein anderer Hilfsstoff in einer Tablette ist ein potenzielles Risiko.

Deshalb kontaktiert sie umgehend den Spezialisten beim Unispital. Dieser recherchiert und rät ihr dringend davon ab, das Medikament zu wechseln. Was jetzt? Wie lange das Medikament nicht lieferbar sein wird, weiss keiner, und Liz Isler, die als Folge der hohen Kortison-Dosen gegen ihre Multiple Sklerose an Diabetes leidet, ist auf das Medikament angewiesen.

Sie wendet sich an den Hersteller Merck. Dort wird sie erst einmal an die Apotheke und ihren Arzt verwiesen. Erst als sich die ehemalige Krankenschwester als medizinische Fachkraft ausgibt, wird sie von der Telefonzentrale an die zuständige Abteilung weitergeleitet. Dort ist die Betroffenheit gross, aber eine Lösung haben die Pharma-Angestellten auch nicht einfach zur Hand: Vielleicht fänden sich noch Musterpackungen für Ärzte, die im Moment sowieso nicht gebraucht würden.

Krankenkassen zahlen nicht

Nach langer Suche finden sich schliesslich doch noch ein paar Schachteln Klinikpackungen à 500 Stück. Die Pharmafirma zeigt sich pragmatisch und beliefert damit Liz Islers Apotheke. Sie ist erleichtert und kann als Einzige in der Schweiz drei Packungen à 77 Franken kaufen. Viel Geld für die IV-Rentnerin. Denn die Krankenkasse übernimmt nichts, darf gar nicht, obwohl ein Aufenthalt auf der Intensivstation das X-fache kosten würde. Denn das Gesetz sieht gar nicht vor, dass Privatpersonen Klinikpackungen kaufen können, und nur was auf der Spezialitätenliste steht, darf und muss die Grundversicherung vergüten.

Das Lyell-Syndrom ist eine seltene Krankheit. Dennoch zeigt Islers Geschichte exemplarisch, welch schwerwiegende Folgen die Umstellung auf ein anderes Medikament mit demselben Wirkstoff haben kann. «Genau deshalb sind wir vorsichtig, wenn wir wieder einmal wegen einem Lieferengpass auf ein anderes Medikament oder ein anderes Generikum umstellen müssen», erklärt Richard Egger, Chef­apotheker des Kantonsspitals Aarau. Und dies passiert immer häufiger.

Geht die Entwicklung weiter wie seit Jahresbeginn, werden dieses Jahr doppelt so viele Medikamente zeitweise nicht lieferbar sein wie noch im letzten Jahr. Ein Medikament musste die Spitalapotheke gar dreimal in einem Monat austauschen. Für das Personal steigt das Risiko von Verwechslungen und Überdosierungen.

Letzte Reserven zusammenkratzen

Auch das Unispital Basel konnte im letzten Jahr 153 Präparate zeitweise nicht beschaffen. Betroffen waren Medikamente quer durch alle Disziplinen: Antibiotika, Medikamente gegen Krebs oder Mittel für die Anästhesie. Damit die Spitäler keine Krebstherapie abbrechen mussten, kratzen sie die letzten Reserven zusammen, die sich noch irgendwo finden liessen.

Chefapotheker Christoph Meier vom Unispital Basel bestätigt die Recherchen: Häufig nicht lieferbar sind altbewährte und günstige Medikamente, auf welchen das Patent ausgelaufen ist. Sobald Generikahersteller auf dem Markt auftreten, geraten die Preise unter Druck. Um Kosten zu sparen und konkurrenzfähig zu bleiben, verlagert die Pharma die Produktion in ein Billiglohnland, vermutet der Pharmazieprofessor. Tatsächlich stammen bereits 80 Prozent der Wirkstoffe aus Indien oder China. Kommt es bei dieser Konzentration auf ein paar wenige Standorte zu Pannen, schlagen diese sofort weltweit durch.

Zuwenig Umsatz: Zulassung widerrufen

Verschärft wird die Situation in der Schweiz zusätzlich durch den kleinen Markt mit aufwendigen Sonderbestimmungen – etwa dem obligaten dreisprachigen Beipackzettel. Für Herstellerfirmen von Medikamenten abseits der Verkaufsrenner bald einmal zu wenig lukrativ: Von der Öffentlichkeit unbemerkt erklärte die Herstellerfirma Sanofi-Aventis Ende Mai, sie widerrufe die Schweizer Zulassung für ihr Medikament Cérubidine – ein seit 1972 zugelassenes Medikament zu Behandlung von Leukämie. «In der Schweiz wurden nur sehr wenige Patienten mit diesem Medikament behandelt; die erzielten Umsätze waren entsprechend tief. Deshalb lassen sich leider eine für unser Land spezifische Verpackung und der damit verbundene Logistikbedarf nicht mehr rechtfertigen.»

Beim Arzneimittel gegen Diabetes, auf welches Liz Isler angewiesen ist, beschränkt sich der Lieferengpass nicht auf die Schweiz. Herstellerfirma Merck erklärt, dass die Versorgungs­lücke global sei. Grund sei eine höher als erwartet ausgefallene Nachfrage, begleitetet von technischen Problemen bei der Produktion.

Das Bundesamt für Gesundheit hat jetzt eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um das Problem der Lieferengpässe anzugehen. Allerdings lässt die erste Verlautbarung nicht vermuten, dass der Bund bald Vorschläge präsentiert: Lösungen müssen international gefunden werden. In der Schweiz brauche es keine neuen Massnahmen, sondern eine verbesserte Koordination und Kommunikation zwischen den Akteuren.

Apotheker fordern Pflichtlager

Das sehen die Spitalapotheker anders. Zur besseren Koordination etwa haben sich bereits elf Spitäler zu einer Einkaufsgesellschaft für Medikamente zusammengeschlossen, inklusive Clara­spital und den beiden Baselbieter Kantonsspitälern Liestal und Bruderholz. Heute reichen die Reserven von Spitalapotheken häufig für maximal ein bis zwei Monate.

Verschiedene Spitalapotheker schlagen vor, dass der Bund Herstellerfirmen verpflichtet, für wichtige Medikamente in der Schweiz ein Lager zu eröffnen. Nötig wären etwa dreimal so grosse Kapazitäten, um monatelange Lieferstopps zu überbrücken. Der Zeitpunkt dazu wäre ideal: Verschiedene Pharmafirmen beantragen beim Bundesamt für Gesundheit, die Preise für einige Dutzend Medikamente nachzuverhandeln.

Diabetes-Patientin Liz Isler hofft, dass sie das Medikament gegen ihre Zuckerkrankheit bald wieder ganz normal in ihrer Apotheke kaufen kann. «Seit mein Medikament nicht mehr lieferbar ist, fühle ich mich völlig ausgeliefert. Die Herstellerfirma kann darüber bestimmen, wie es mir geht.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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