Knackeboul fährt nicht auf Anstand ab

Ein offensichtlich alkoholkranker Obdachloser steigt zu uns ins Tram und schimpft irgendwas. Was dann in uns vorgeht, ist etwas typisch Schweizerisches. Eine Geschichte.

Eigentlich wollte Knackeboul nur weg von der Zürcher Goldküste.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Ein offensichtlich alkoholkranker Obdachloser steigt zu uns ins Tram und schimpft irgendwas. Was dann in uns vorgeht, ist etwas typisch Schweizerisches. Eine Geschichte.

Gerade kehre ich aus dem Zürcher Seefeld zurück. Ich weiss nicht, was pelziger ist: das Gefühl auf meinen Zähnen nach dem Espresso vor dem Opernhaus oder die Jacken der Damen, die da auf den Trottoirs flanieren.

Das viele Gold dieser Küste schien an diesem sonnigen Herbsttag über das Grundwasser an die Wurzeln der Bäume geraten zu sein, golden wie deren Kronen leuchteten. Kurz: ein magischer Tag. Mitten durch die märchenhaft luxuriöse Szenerie wandelte aber ein Unkenrufe ausstossendes Orakel – ein greiser Alkoholiker. Je mehr er sich näherte, desto deutlicher entpuppten sich seine Unkenrufe als ein wiederholtes «Ihr Hurensöhne!!!»

Während viele den Mann auslachten, die Nase rümpften oder sogar empört waren, dachten sich wohl einige – darunter ich:«Na ja, so unrecht hat er nicht.»

Im Tram

Der Mann trug zerfetzte Kleidung, zog einen zweirädrigen Einkaufswagen hinter sich her und trank Bier aus einer zerknautschten Pet-Flasche. Neben mir an der Haltestelle erblickten ihn auch drei etwa 16-jährige Jungs. Dann entwickelte sich eine Szene, die man in Filmen jeweils als überzeichnet empfindet. Als einer der Drei mit seinem Kopf in Richtung des Alten deutete, brachen diese erst in fieses Gelächter aus, worauf eine kurze Unterredung folgte, ob man dem Mann den Wagen entreissen wolle.

Man beschränkte sich schliesslich auf üble Zurufe und Provokationen aus nächster Nähe.

Der arme Mann versuchte inzwischen, ins Tram einzusteigen, schaffte es irgendwann und legte sich schnurstracks der Länge nach hinter die hinterste Sitzreihe auf den Boden und schlief ein. Erst jetzt sah ich, das sein Gesicht über die ganze rechte Hälfte aufgescheuert und verkrustet war. Hoffentlich vom vielen Hinfallen, dachte ich, und nicht von Typen wie diesen fiesen Jungs, die ihre üblen Gedanken in die Tat umgesetzt hatten.

Wie anständig wir Schweizer doch sind! Und wie latent aggressiv das wirken kann!

Gerade als ich meinte, der Greis schlafe jetzt friedlich, schreckte dieser auf und begann wieder lauthals auf einen fiktiven Gegner zu schimpfen. Immer wieder. Vom Seefeld bis zum Schaffhauserplatz. Und jedes Mal schauten sämtliche Köpfe im Tram wieder nach hinten in seine Richtung.

Das Lustige dabei war, dass diese noch so oft nach hinten blicken konnten – sie sahen nichts. Der rufende Mann lag in Deckung hinter meinem Sitz, und ich bin mir sicher, dass einige beim Anblick meines eher verschmitzten Gesichts dachten: «Ist das nicht dieser Knäckebrot?! Ist der jetzt wieder am Freestyle-Rappen im Tram?»

Situations-Tragik-Komik. 

Immerhin schaffte ich es, den Mann wenigstens in den Ansatz eines Gesprächs zu verwickeln und ihm auf seine mit der Lautstärke einer Club-Soundanlage gestellten Frage, wohin er denn überhaupt fahre, mit «Bucheggplatz» zu antworten.

Schöne Tugend

Was mir an dieser Geschichte nachträglich am meisten zu denken gibt, ist nicht die erschreckende Bosheit der Flegel, die den Mann anrempelten und auslachten. Auch nicht die ausfällige Erscheinung und Verhaltensweise des greisen Alkoholikers. Es sind die Reaktionen der belästigten Bürger.

Vielleicht war es der Kontrast zwischen Pelzmäntel tragenden Blondinen mit Schlauchbootlippen und dem völlig verwahrlosten Menschen, der wirkte wie aus einer anderen Zeit. Jedenfalls wurde mir einmal mehr bewusst, wie anständig die Schweizer sind. Und wie latent aggressiv das wirken kann.

Das sind wir wirklich, wir Schweizer. Anständig. An sich eine gewinnbringende Tugend, denn oft wird sie mit Freundlichkeit verwechselt. Keiner der Passagiere hat den alten Mann aktiv zurechtgewiesen oder ihn aus dem Tram bugsiert. Selbstverständlich haben die meisten Passagiere kapiert, dass es sich um eine kranken Menschen handelte, man seine Ausrufe nicht persönlich nehmen darf – und haben deshalb geschwiegen. Andererseits: Wie viele von ihnen waren innerlich entsetzt, dass dieses Subjekt ihre goldene Idylle störte? Wie viele wünschten sich eine Art Ordnungshüter herbei?

Es wäre derselbe Anstand, der die Beiwohner dieser Szene schweigen liess, welcher sie auch schweigen liesse, würde der Alte von mehreren Polizisten aus dem Tram gerissen. Um Empörung zu wecken, hätte es schon die fiesen Jungs gebraucht. Die hätten auf den Mann eintreten müssen, um vielleicht ein Eingreifen zu provozieren. 

Solange sie anständig sind, dürfen auch Tausende Neonazis in der Ostschweiz den Führer feiern.

Immer schön anständig bleiben. Nicht auffallen, nicht ausfallen – immer gefallen, heisst die Devise. Fleissig sein. Arbeiten. Leistung erbringen und dann am Wochenende seine verdiente Ruhe geniessen. Da will man dann eben nicht von einem störenden Psycho belästigt werden. Man will sich von den anständigen Anstrengungen der Woche erholen und verlangt auch Anstand von allen anderen. Solange der Anstand gewährleistet ist, dulden die Anständigen auch den Randständigen.

Man duldet dann sowieso alles: Solange sie anständig sind, dürfen auch Tausende Neonazis in der Ostschweiz den Führer feiern. Solange gegen aussen hin alles gesittet zu und her geht, geht es in Ordnung. Hauptsache wir haben unsere Ruhe. «Hast du gehört, gestern haben Tausende Neonazis bei uns im Dorf das Dritte Reich gefeiert – samt Hitlergruss!» «Aber haben sie sich anständig benommen?» «Hm … ja.» «Dann macht das nichts.» 

Unsere Gesellschaft brodelt. Es köchelt die Suppe des Misstrauens, des Geizes, der Angst, des Hasses; der permanente Stress und Druck – alles unter dem Deckel des Anstands. Leute, die das Korsett des Anstands ablegen, werden gemassregelt, öffentlich zur Schau gestellt, weggesperrt, umgebracht vielleicht.

Wenn solches Verhalten als anständig bezeichnet wird, macht das nicht das Verhalten unproblematisch, sondern den Anstand verdächtig.

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