Wir stehen uns streitend gegenüber, dabei wollen wir doch weitgehend dasselbe – Knackeboul schreibt einen Brief an den politischen Gegner.
Lieber besorgter Bürger
Ich nenne dich so, weil ich die Einteilung in rechts und links trügerisch finde und weil ich uns zwei nicht in verschiedene Töpfe werfen will. Wir sitzen zusammen in diesem Boot namens Schweiz, namens Europa, namens Welt.
Wir haben wohl mehr gemeinsam, als wir uns eingestehen wollen. Schlussendlich wollen wir ja nicht viel. Wir könnten uns bestimmt auf Folgendes einigen: Wir möchten Sicherheit für uns, unsere Familien und unsere Freunde. Ein Leben in Frieden, ohne Angst angegriffen, verfolgt oder ausgeraubt zu werden. Wir möchten einen sicheren Arbeitsplatz und einen Job, der so gut wie möglich auf uns zugeschnitten ist. Dazu die Garantie, dass wir auch nach einem Unfall oder Schicksalsschlag die Chance auf ein Einkommen hätten.
Wir wollen Geborgenheit, ein Heim, aber auch die Möglichkeit, zu reisen und uns individuell zu entfalten. Vielleicht wollen wir sogar Wettbewerb und die Aussicht, für besondere Leistungen auch entsprechend entlöhnt zu werden. Verzichten wir zum Beispiel während einer Weiterbildung eine Zeit lang auf Lohn oder einen Teil der Freizeit, erwarten wir danach dafür einen höheren Lohn und mehr Aufstiegsmöglichkeiten. Als Schweizer ist uns natürlich Pünktlichkeit und Sauberkeit wichtig, und was gibt es Schöneres, als an einem freien Tag morgens mit dem Zug in die Berge zu fahren und in der Natur Energie zu tanken.
Wir haben dasselbe Ziel, aber unterschiedliche Auffassungen vom Weg, der dorthin führt.
Ich merke gerade, wie viel Gutbürger in mir steckt und dass es doch nicht sooo wenig ist, was wir wollen – aber ich glaube, wir bewegen uns immer noch im Bereich der Gemeinsamkeiten. Bis jetzt habe ich wenig gesagt, dem du nicht zustimmen könntest, oder? Die brennende Frage lautet also: Was macht uns denn so verschieden? Was macht uns sozusagen zu Feinden?
Ich gehe jetzt mal so weit und behaupte: Wir haben dasselbe Ziel, aber unterschiedliche Auffassungen vom Weg, der dorthin führt. Der eine geht links durch, der andere rechts. Dazu streiten wir, werfen uns Dummheit vor und können vor lauter Groll unsere Reise gar nicht richtig geniessen.
Ich rufe zu dir rüber: «Du Bünzli, du musst nicht meinen, die Schweiz gehöre dir und sei ein Sonderfall! Wie kann man bitte stolz auf seine Herkunft sein?! Wir müssen alle Menschen gleich behandeln, auch kriminelle Ausländer!»
Du rufst zurück: «Dann nimm doch die Flüchtlinge bei dir auf, du Pseudo-Gutmensch! Ihr Sozis treibt uns mit eurer Gleichmacherei in den Ruin. Wir müssen zuerst den Menschen im eigenen Land helfen!»
Findest du nicht, dass wir die Welt in oben und unten einteilen könnten statt in links und rechts? Du beschwerst dich doch auch oft über die da oben. 😉
Und während wir uns streiten, ziehen dunkle Wolken auf. Geschickte Gschäftlimacher reissen sich alles unter den Nagel. Ein verschwindend kleiner Teil besitzt mehr als der ganze Rest. Die 62 reichsten Erdenbewohner haben mehr als die 3,5 Milliarden ärmsten. Wir zwei Streithähne gehören nicht zu diesen 62. Vielleicht hat einer von uns etwas mehr als der andere, aber wahrscheinlich werden wir beide es nicht in die oberen Zehntausend schaffen.
Für die Elite spielen die Begriffe, mit denen wir auf unseren verschiedenen Pfaden jonglieren, eine untergeordnete Rolle. Was bedeuten schon Heimat, sicherer Arbeitsplatz und soziale Gerechtigkeit für jemanden, der sich Firmen, Ländereien und Politiker einfach so kaufen kann.
Findest du nicht, dass wir die Welt in oben und unten einteilen könnten statt in links und rechts? Du beschwerst dich doch auch oft über die da oben. 😉 Es ist doch so, dass ein Grossteil der Menschheit schuftet, ohne jemals reich zu werden, während immer weniger Menschen immer mehr absahnen. Diese Elite versucht uns klarzumachen, dass die Superreichen allen was bringen, weil ein Teil ihres Geldes in die unteren Schichten durchsickere und so das System am Laufen halte.
Sie sagen uns, dass höhere Löhne für die Arbeiter das System gefährden – aber wollen wir in einem System leben, in dem mehr Gerechtigkeit eine Gefahr bedeutet?
Die Statistiken zeigen aber das Gegenteil. Der Mittelstand schwindet rapide und die Kluft zwischen arm und reich ist schon fast unüberwindbar gross. Sie sagen uns, dass höhere Löhne für die Arbeiter oder tiefere Löhne für das Kader das gesamte System und somit unsere Arbeitsplätze gefährden – aber wollen wir in einem System leben, in dem mehr Gerechtigkeit eine Gefahr bedeutet?
Sie bieten dir einen Sündenbock an, der schuld ist an deiner unsicheren Stelle, den tieferen Löhnen oder dem schlecht funktionierenden Sozialsystem: den Arbeitslosen, den Asozialen, den Ausländer und eben – den Flüchtling! Dabei sind uns/dir diese Menschen viel näher als die Firmenbosse, die Grossindustriellen, die Gewinner unseres Systems.
Hier beginnen sich unsere Ansichten wieder zu unterscheiden, lieber besorgter Bürger. Unsere Wege haben sich gekreuzt, du hast mir kurz zugehört, erstaunlich oft genickt; jetzt fängt es langsam wieder an, dich zu nerven. Aber bevor du gehst, hör mir noch eine Minute zu. Vielleicht bin ich verblendet oder eingebildet, aber ich bin mir sicher, dass auf deinem Weg weiter vorne ein Wolf lauert, und könnte schwören, ich habe auf meinem eine schöne Feuerstelle gesehen und ein Bänkli, auf dem wir uns kurz ausruhen und austauschen könnten.
Ich glaube nicht, dass du dumm bist oder ein böser Mensch, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du die Schuldigen für die Missstände am falschen Ort suchst.
Ich sehe, du entfernst dich langsam, darum muss ich dir unbedingt noch etwas sagen: Ich glaube nicht, dass du ein Rassist bist oder dumm oder ein böser Mensch, der anderen schaden will, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du die Schuldigen für die Missstände auf der Welt, in Europa, in der Schweiz und in deinem Leben am falschen Ort suchst.
Ok, du bist dabei, dir die Ohren zuzuhalten und rechts aus dem Bild zu rennen! Ich rufe dir was Letztes nach – jetzt ganz konkret: In diesem Land wütet eine Partei mit einem Gedankengut, das dir, mir und der Schweiz grossen Schaden zufügen wird. Ihre Initiativen und Parolen dienen nicht der Erhaltung deiner Sicherheit, deiner Arbeitsstelle oder deines Heims, sondern der Erhaltung ihrer Macht und ihres Reichtums. Lass uns bitte nicht gegeneinander, sondern gemeinsam für eine gerechtere Welt kämpfen – nur so sichern wir uns, was uns beiden gemeinsam und wichtig ist. Danke, dass du mir zugehört hast.
Dein Gutmensch 😉