Die Toten Hosen sind eine gute Metapher für Schweizer Open Airs. Waren mal rebellische Gitarre, feiern jetzt aber in der Schlagerhölle. Auch dass die Hosen bei gleich zwei der grössten Schweizer Festivals als Haupt-Act auftreten, spricht Bände. In der Schweiz ist inzwischen alles zum Volksfest verkommen, was nicht bei Drei im Untergrund war.
Für mich sehen die Festivalplakate seit zehn Jahren gleich aus. The Prodigy, Cypress Hill, Die Toten Hosen. Fehlen nur noch Skunk Anansie oder Clawfinger. Irgendwo muss es ein Nest geben – ein Nest namens Agentur. Dort fliegen die grossen Veranstalter vorbei und holen sich ein Ei. Oder die grossen Veranstalter und die grossen Agenturen sitzen/liegen im selben Nest und kraulen sich die Eier.
Ich opfere gerade die Aussicht auf zukünftige Hauptbühnen-Auftritte meinem Bedürfnis nach satirischer Auseinandersetzung mit himmelschreienden Widrigkeiten. In diesem Fall hier schreien sie unter freiem Himmel. Der Himmel straft dieses Sodom und Gomorrha der Geschmacklosigkeiten regelmässig mit Regen. Ohne Erfolg. Wahre Festival-Freaks sind Masochisten, die lassen sich nicht beirren.
Das Musikprogramm in den Festivalzelten ist aus der Hölle. Hölle. Hölle. Hölle.
Am Open Air St. Gallen (ich hatte da selber einen kurzen Auftritt mit ein paar Kumpels) habe ich letztes Wochenende auf dem Weg zur Bühne innert fünf Minuten dreimal Helene Fischers «Atemlos» gehört. Fast war ich froh, als drei Minuten später aus einem Party-Zelt Göläs «Schwan» tönte. Das Musikprogramm der meisten Zelte an Festivals ist aus der Hölle. Hölle. Hölle. Hölle.
An dieser Stelle ein kleiner Exkurs in Sachen Schlagertitel. Ein befreundeter DJ spielt des Öfteren an Hochzeiten, und auch dort wird diese Höllenmusik passenderweise sehr oft gewünscht. Ihm sei dabei aufgefallen, dass niemand weiss, wie diese Schlager offiziell heissen. Die Wünschenden kennen meist nur ein Schlagwort.
So heisst zum Beispiel das HölleHölleHölle-Lied eigentlich «Wie ich einst am Morgen den Hades erblickt’». Kleiner Witz. Es heisst «Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?» (HölleHölleHölle) und ist von Wolfgang Penis.
Regenschutz vom Zigi-Hersteller
Ich finde das interessant. Fehlende Titelkenntnis fungiert offenbar als Schlager-Detektor. Wenn du als Band denkst, dir sei ein tiefgründiger Song namens «Die Leiden des jungen Werther» eingefallen, das Publikum ihn aber nur unter dem Titel «Kopfschuss, Kopfschuss. Peng Peng Peng!» kennt, könnte es durchaus sein, dass dir ein Schlager passiert ist.
Wobei ich jetzt gerade einen Song namens «Kopfschuss, Kopfschuss. Peng Peng Peng!» schreiben möchte. Das hallt so schön nach. Einen Tanz hätt’ ich auch schon. Zu erleben nächstes Jahr in der «Schiess-mich-tot-Bar» am Open Air St. Gölä.
Neben Konzerten von biederen Bands präsentieren Konzerne verschiedene Brands. So verteilt zum Beispiel eine Zigimarke Regenschütze und versucht damit, Teenies das Rauchen schmackhaft zu machen: Wenn du schon an Lungenkrebs stirbst, dann wenigstens trocken.
Zwischen Euphorie und Todessehnsucht
Die Regenschütze sind mir aber immer noch lieber als die Verkleidungen. Aus irgendeinem Grund verspüren manche Menschen den Drang, sich für Musik-Festivals zu verkleiden. Der Schweizer scheint ein unbändiges Bedürfnis nach Fasnacht zu haben, und wenn halt grad nicht Fasnacht ist, müssen andere Events für diese neurotische Selbstflucht hinhalten.
Einen draufsetzen kann da nur noch die Berichterstattung. Während der normale Mensch einen weiten Bogen macht um jeden Oben-Ohne-Six-Packer mit herauslugenden Calvin-Klein-Boxershorts, um alle Bikini-Top-Tussen in Partnerlook und quäkender Stimme und um sämtliche als Fantasie-Tier verkleideten Single-Dudes, die alleine bleiben werden, rücken Fernsehen und Radio genau diese Gestalten in den Mittelpunkt.
Zusammen mit den mega lässigen Intis quirliger Moderatorinnen im coolen Open-Air-Look ergibt das einen Pfadilager-Groove, der einem einen Ausdruck zwischen manischer Euphorie und Bill Kaulitz’scher Todessehnsucht auf das schlammverspritzte Gesicht zaubert.
Zur Strafe Passionsfrucht-Shots
Meinen Jugo-Freund, der mit mir an diesem surrealen Ort war, verwirrte diese groteske Szenerie noch mehr als mich. Wir haben uns dann Shots gegönnt. (Shots! Shots! Sho-Sho-Sho Shots!) Auf einmal fragte er mich: «He, Kneck. Kennsch das, wenn so Sieche umeloufe wie Snowboarder, aber vou rassistisch si, obwohl si südländisch usgsehnd?» «Du meinsch Bündner?», erwiderte ich und wir lachten über diese Antwort, die so falsch und richtig gleichzeitig war.
Für einen kurzen Augenblick vergassen wir, wo wir waren, bis uns ein Sixpack-Guy mit Schlapphut und Super-Soaker (das sind Wasserpistolen in grotesk) zurück in die Realität spritzte. Wir beschlossen, den Dude zu bestrafen. Zu diesem Zweck schleiften wir ihn durch sämtliche Gölä-kontaminierten Party-Zelte, soffen auf seinen Armbandpass mit integrierter Cashless-Zahlfunktion Dutzende Passionsfrucht-Shots und zwangen ihn anschliessend, sich mit uns den kompletten Auftritt der Toten Hosen anzuhören.
In Gummistiefeln aus der Hölle
Zuvor hatten wir uns von der Silent-Party Kopfhörer geliehen und auf den Kanal mit der geilen Trap-Mucke geswitcht, wo die Künstler auf eine Weise lallen, dass einem warm ums Herz wird vor lauter Sinnentleertheit. Unser Sixpäckler musste unterdessen Campinos Texte über sich ergehen lassen.
Es war hart. Bei «Tage wie diese» brach er zusammen und versprach uns, sich von nun an immer ein Shirt anzuziehen und kein Axe Africa mehr zu benutzen, solange er nicht mindestens eine afrikanische Sprache fliessend spricht.
Wir liessen ihn frei und er irrte atemlos durch die Nacht. Dann endlich besänftigte Orpheus in Gestalt eines Musikers namens Voodoo Jürgens mit dem Song «Heute grob ma Tote aus» den Hades und wir konnten aus der Hölle entrinnen. Wir rannten in Gummistiefeln um unser Leben und schworen uns, nächstes Jahr wiederzukommen. Kopfschuss, Kopfschuss, Peng Peng Peng!