Viele Leute messen beim Laufen Puls, Geschwindigkeit und Kalorienverbrauch. Ist das noch Spass oder schon Zwang? Ein Selbstversuch.
Früher war mir der Spagat zwischen Nachtleben und Hochkultur Sport genug. Nachts lockte elektronische Musik, tagsüber der Druck auf der Zeitungsredaktion und abends ins Theater. Dann kamen die grauen Haare und damit die Einsicht: Sportverweigerung ist kein Akt des Widerstands. Die Welt wird nicht besser, wenn ich weiterhin zu wenig schlafe, zu viel rauche und Körpertraining ausserhalb der Tanzfläche als Vorbote des Faschismus betrachte.
Die kritische Sicht auf den Sport war in der Hochkultur allerdings lange Zeit verbreitet. Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek etwa zog stets direkte Linien vom Nationalsozialismus zum Breitensport. Erst kürzlich vermutete Jelinek über ihre Schriftstellerkollegen, die sich nicht zu Wort melden würden gegen den Wahn des türkischen Präsidenten Erdogan: «Vielleicht stecken sie derzeit ja im Gefängnis ihrer Badehosen oder Bikinis an irgendeinem Strand fest.» Merke: Wer badet, duldet Diktaturen.
Die Körperfeindlichkeit hat historische Gründe, die Bilder von Leni Riefenstahls arischem Körperkult von der Berliner Olympiade 1936 sind in Jelineks Generation und Bildungsklasse präsenter als anderswo. Sie zeichnete den perfekten Arier als durchtrainierten Sportler, der keinen Schmerz kennt und lieber zusammenbricht als aufzugeben.
Auch weite Teile der Musikkulturen, mit denen ich aufwuchs, gingen im Prinzip mit Jelinek einig. In Post-Punk, Jazz und sogar in der Tanzkultur Techno dachten viele, vor allem die Männer: Trinken ist auch trainieren. Ein Grund mehr, mich von der Pauschalverteufelung bewegter Körper zu lösen. Seit vielen Jahren finde ich häufiges Joggen super, ohne Sport sähe mein Leben anders aus (das ist eine andere Geschichte).
Dennoch staune ich, wie sich der Auftritt der Fitness im öffentlichen Raum gewandelt hat. «Körper machen Leute», zitiert eine Trainingsbude bei mir um die Ecke Gottfried Keller, bei dem es 1874 noch «Kleider machen Leute» hiess. Auf dem Plakat des Fitnessstudios beisst ein weisser Mann mit nassem Waschbrettbauch in einen Apfel und blickt entschlossen in die Kamera. Zum Glück sieht das Elfriede Jelinek nicht. Der Waschbrett-Mann erinnert an die Körper in Riefenstahls Film. Die Botschaft: Muskeln sind Pflicht, wenn du etwas gelten willst.
Die sportfanatischen Hipsterbärte haben bestimmt noch keine Armee von innen gesehen. Wollen sie sich deshalb morgens um 7 anschreien lassen?
Wenn ich morgens Runden im Volkspark Friedrichshain in Berlin laufe, wo ich schon länger wohne, staune ich noch einmal. Seit ein paar Jahren tauchen Gruppen auf, die sich anschreien wie in amerikanischen Militärfilmen. Meistens tatsächlich in Englisch, Berlin ist international geworden. Es sind Trainingsgruppen, die eine Fahne aufstellen, als würden sie auf dem Mond landen oder den Everest besteigen. Aber es ist nur der Bunkerberg im Friedrichshain, gebaut aus Kriegstrümmern.
Verwirrend: Die vielen sportfanatischen Hipsterbärte haben bestimmt noch keine Armee von innen gesehen. Fehlt ihnen etwas, wollen sie sich deshalb morgens um 7 anschreien lassen? Allerdings: Bei den Müttern 100 Meter weiter hinten ist es nicht viel anders.
Das Militärische dieser Fitnessoffensiven und auch die Geschlechtertrennung kann man reaktionär nennen. Denke ich, während ich renne. Oder danach. Denn während der Läufe denke ich wenig. Laufen ist für mich vor allem: nichts. So sehe ich den Genuss gerade in der Distanz zum Büro. Also kein Anruf, keine Mail, kein Text, kein Sinn, keine Performance (das ist Englisch für Leistung). Und keine Musik. Kein Kopfhörer streichelt die Ohrmuschel, keine Stimme flüstert mir den Weg.
Es laufen immer mehr immer ähnlicher, die Standardisierung ist längst angelaufen.
Das waren jetzt viele Verneinungen. Da läuft man Gefahr, den andern vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben – klassische Spiesserfalle, im Journalismus sehr verbreitet. Sollen doch alle laufen, wie sie wollen. Allein, es laufen immer mehr immer ähnlicher, die Standardisierung ist längst angelaufen. Dafür sorgen die vielen Running Apps, die aufzeichnen, wohin man läuft, wie schnell man rennt, wie viele Kalorien man verbrennt.
Wer nicht aufpasst, findet seine Route auf Facebook wieder, Freunde können einen beobachten und anfeuern. Und wer ein iPhone benutzt, verbindet sich kurz mit der Health App, die sich im Unterschied zur Running App nicht löschen lässt. Liegt es daran, dass die Gesichter zusehends verbissener wirken im Park? Oder reden die gerade mit dem Mitarbeiter der Krankenkasse, der zuschaut und entscheidet, ob er die Prämie senken kann?
Aus Neugier und auch für diesen Text bin ich zwei Mal mit der populären App Runtastic gelaufen. Runtastic war ein österreichisches Start-up, das bald vom mächtigen deutschen Verlag Axel Springer gekauft wurde. Letztes Jahr ging Runtastic von Springer für 220 Millionen Euro an Adidas. Wir reden also nicht über ein Nischenphänomen, und Runtastic sind auch nicht die einzigen mit solchen Angeboten.
Meine beiden Läufe mit der App haben alles verändert. Die Zwischenzeiten im Ohr haben mich daran erinnert, dass es um Leistung geht. Plötzlich überlegte ich mir, ob die kurze Pause zum Dehnen nötig sei oder auch erst zu Hause erfolgen könne. Ich wollte meine Gesamtgeschwindigkeit schliesslich nicht mit einer Pause verschlechtern. Und soll ich wirklich auf die zwei Bunkerberge rennen, verzerren Höhenmeter nicht die Statistik?
Sicher kann man mit dieser App souveräner umgehen, und vieles ging beim zweiten Mal besser. Da habe ich, als Experiment, meinen Lauf sogar auf Facebook veröffentlicht. Leider hat meine Crowd den Braten gerochen und wenig kommentiert, vielleicht aus Höflichkeit, weil ich mich zehn Tage davor abfällig über die «Vermessung der Freizeit» äusserte. Die Quantified-Self-Bewegung, zu der solche Apps gehören, ist ein Riesenmarkt. Vermutlich stehen wir da erst am Anfang. Es geht darum, sich selbst zu vermessen und zu optimieren und für diesen Zweck möglichst viele Daten zu sammeln.
Die Leere füllen
Für medizinische Zwecke, etwa bei chronischen Leiden und Krankheiten, ergibt das sicher Sinn, nüchtern lässt sich kaum dagegen argumentieren. Aber die Breitenwirkung solcher freiwilliger Vermessung, die an Zwang grenzt, legt «Solutionism» nahe, wie das der russische Star der Digitalisierungskritik, Evgeny Morozov, nennt. Es ist der Glaube an technische Lösungen für alles – und die Verneinung von allem, was nicht in Daten auszudrücken ist: Unsinn, Glück, Leere, Philosophie, Kunst… Der Witz des «Solutionism» ist aber, dass er Probleme löst, wo bisher keine waren. Joggen ist ja nicht meine Krankheit, warum sollte ich dieses zweckfreie Zeitfenster so behandeln, als wäre es die Pest?
Zum Schluss wollen Sie bestimmt wissen, wie gut ich gelaufen bin. Nun denn: Ziemlich exakt so, wie ich es in den letzten gut zwölf Jahren immer etwa geschätzt habe. Und jetzt: Delete.