Marie Lola sagt, was ihr Musik ihr bedeutet, was ihr an der Schule fehlt und was ihr «härzigster» Traum ist.
Marie Lola ist 17, Schülerin am Gymnasium Leonhard. Sie lebt mit ihrem Vater in einer Wohngemeinschaft, im Zentrum von Basel. Marie Lolas Kindheit war keine konventionelle, ihre Eltern – die Mutter Künstlerin, der Vater Unternehmer im Kulturbereich – lebten nie als Paar zusammen. «Das Bild der vereinten Familie ist mir fremd.» Sie habe es aber auch nie vermisst. Es war einfach so, wie es war.
Marie Lola lebte bei ihrer Mutter, sah ihren Vater aber oft. «Ich hatte immer zu beiden eine enge Beziehung.» Jetzt, wo sie beim Vater wohnt, ist die zu ihm noch enger geworden. Marie Lola spricht von «Seelenverwandtschaft». Sie wisse nicht recht, wie erklären, «es gibt Menschen, bei denen du vom ersten Moment an so empfindest». Das Gefühl einer starken Verbundenheit, emotional und intellektuell. «Da ist eine solche Offenheit zwischen uns, und ich kann mit ihm über so vieles reden.»
Mit 10 nach Peru
Spätestens bei diesen Sätzen wird klar, da sitzt einem kein typischer Teenager gegenüber, der die Erwachsenen und insbesondere die eigenen Eltern eher doof findet, sondern eine junge Frau, die … ja, die irgendwie abgeklärt wirkt. Die spricht wie eine Erwachsene. «Was heisst erwachsen?» Marie Lola greift in eine Tabaktüte, klemmt sich einen Filter zwischen die Lippen und rollt mit geschickten Fingern eine Zigarette. Es sei schon so, sagt sie danach, ihre Freunde seien eher älter. Mit manchen Gleichaltrigen verbindet sie die Schule, nicht viel mehr. Das hat wohl damit zu tun, dass sie nicht nach dem üblichen Eltern-Kind-Schema aufgewachsen ist, dass sie nebst einer jüngeren Halbschwester noch zwei Halbgeschwister hat, die um einiges älter sind als sie – und möglicherweise auch damit, dass die Mutter mit ihr nach Peru zog, als sie zehn Jahre alt war.
«Anfangs war das schlimm für mich: Ich musste mich von meinen damaligen Freunden verabschieden, fühlte mich aus meinem Umfeld herausgerissen.» Ihre Mutter sei in der ersten Zeit im fremden Land ihr einziger Halt gewesen, sagt Marie Lola. «Unsere Beziehung war dadurch sehr innig – aber deswegen auch konfliktreich.» Drei Jahre lang lebten sie in Peru, dann kehrten sie nach Basel zurück. Und wieder galt es für Marie Lola, Abschied zu nehmen. «Obwohl ich immer davon sprach, irgendwann zurückzukehren, fiel es mir in diesem Moment nicht leicht.» Wiederum liess sie Freunde zurück, ausserdem war da noch «die erste Verliebtheit», wie sie sagt.
Diese angestrengte Suche nach Individualität
Zurück in Basel fiel es Marie Lola schwer, sich wieder einzuleben. «Die Menschen hier kamen mir irgendwie unecht vor, mit einer starken Emotionssperre. Ich weiss, es ist schwierig zu beschreiben.» Viele Gleichaltrige standen an einem anderen Ort als Marie Lola, «aber ich lernte, damit umzugehen.» Heute, sagt sie, habe sie kein Problem mehr damit. Das ist vier Jahre her.
Sie fühlt sich nicht mehr als Aussenseiterin, sie geht gern zur Schule. Grundsätzlich. Denn: «Zu motzen gibt es schon einiges.» So könne sie manche Lehrmethoden und manche Lehrer nicht verstehen. «Bei einigen frage ich mich, weshalb die überhaupt Lehrer geworden sind.»
Ausserdem, findet Marie Lola, könnte man gut ein paar Fächer weglassen – «Französisch zum Beispiel, Sprachen lernt man, wenn man sie praktiziert» – und dafür andere reinbringen. Politik! Eigentlich ein Skandal, dass Politik an einem Gymnasium praktisch kein Thema sei. «Hallo, wir sind Jugendliche, wir sollten doch informiert sein über das, was läuft.» Sie jedenfalls will dereinst an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen, sobald sie kann. Wo sie politisch steht? Eher links, sagt sie, «aber nicht ausschliesslich». Marie Lola lässt sich nicht gerne in ein Schema pressen. Sie stört sich denn auch an diesem momentanen «Hipster-Trend, etwas Spezielles sein zu wollen.» Das habe so etwas Aufgesetztes. «Diese angestrengte Suche nach Individualität führt nur in die Uniformiertheit.»
Marie Lola möchte sich zu allem eine eigene Meinung bilden und auch vorbehalten. Thema Religion etwa: Sie sei zwar absolut «unreligiös» aufgewachsen, aber sie habe Respekt vor dem Glauben andererer Leute. Sie findet es beispielsweise sehr schön, in Italien in alte Kirchen zu sitzen, Kerzli anzuzünden und die Stille zu geniessen. «Und an meinen Bruder zu denken, der in Südamerika lebt.»
Menschen, die machen, was sie wollen
Marie Lola hängt an ihren Geschwistern, ihre 11 Jahre ältere Schwester nennt sie gar ihr grösstes Vorbild – wenn sie denn schon nach Vorbildern gefragt wird: «Sie ist super, sie wusste immer, was sie will, ging diesen Weg beharrlich und unauffällig.» Sie habe Schneiderin gelernt, immer mit dem Theater als Ziel vor Augen. «Und sie lebt jetzt als Kostümbildnerin in Berlin, momentan hat sie ein Engagement am Theater Basel.» Marie Lolas Vorbilder sind jedenfalls nicht Stars und Supermodels, sondern einfach «Menschen, die machen, was sie wollen». Sie ist 17 Jahre alt, ein paar Fragen, wie ob sie dereinst Kinder haben möchte oder was sie nach der Matura studieren wird, kann sie noch nicht abschliessend beantworten. Aber etwas weiss sie mit Sicherheit: Musik wird immer ein wichtiges Thema in ihrem Leben sein.
Seit früher Kindheit macht sie Musik. Bis vor einem Jahr spielte sie Geige und Klavier, eine Zeit lang auch Schlagzeug, und derzeit konzentriert sie sich auf Gitarre und Gesang und aufs Texten und Komponieren. Ob sie damit dereinst den Lebensunterhalt bestreiten kann – das wäre schön, sagt sie. Ihr «härzigster» Traum, wie sie ihn bezeichnet, ist der von einer Bar, die zugleich Galerie und Konzertlokal sowie Second-Hand-Laden ist.
«Mir fehlt es nicht an Visionen für die Zukunft», sagt Marie Lola, «aber ich versuche, bewusst im Jetzt zu leben.» Das Schöne an der Jugend sei schliesslich die Unbeschwertheit. Sie dreht sich eine Zigarette, nimmt genüsslich einen Zug, grinst verschmitzt und sagt: «Zudem sieht man in dem Alter so gut aus wie nie mehr.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12