«Wenn du willst, kannst du mich als historische Figur bezeichnen», sagt Louise Stebler, die sich im Gespräch nicht lange mit dem förmlichen Sie aufhält. «Aber ich war nur eine von 14 Frauen aus sechs Parteien, die damals als erste in den Grossen Rat gewählt wurden», fügt sie sogleich hinzu.
In dieser Aussage zeigt sich ein wesentlicher Charakterzug der Politikerin der kommunistischen PdA (Partei der Arbeit): Ihr geht es nicht so sehr um ihre Person, wichtig sind ihr die politischen Inhalte. Da sind die subversiven Aktionen, die sie in jungen Jahren mit Genossinnen und Genossen der verbotenen kommunistischen Freien Jugend durchgeführt hat. Die parteiübergreifende Frauensolidarität im Grossen Rat und die Kontakte mit gleichgesinnten Menschen aus der halben Welt, die sie als internationale Friedensaktivistin geknüpft hat.
Beim Treffen in ihrer Fünfzimmerwohnung im zehnten Stock des Hochhauses beim Schützenmattpark drückt sie dem Journalisten und dem Fotografen denn auch als Erstes die Einladung zur Jahrestagung der Schweizerischen Friedensbewegung in die Hand. Und immer wieder schweift sie vom Thema ab, deutet auf Wandteppiche, auf Bilder an den Wänden und erklärt, welche Geschichten hinter diesen Zeugnissen ihrer Arbeit als Friedensaktivistin stecken.
Teppich aus Palästina, Porträt von Lenin
Auch ein kleines Porträt von Lenin hängt prominent an einer Wand. Von der Sowjetunion, von Stalin gar, mag sie sich nicht wirklich distanzieren: «Stalin hat letztlich den Krieg gewonnen, wenn das nicht so gewesen wäre, wären auch wir ermordet worden.» Und mit einem vieldeutigen Schmunzeln erinnert sie sich daran, wie die Freie Jugend eines nachts ein riesiges Transparent über den Rhein spannte mit der Aufschrift: «Schnauz schlägt Schnäuzchen» – eine Bemerkung, die auf die Gesichtsbehaarung von Stalin und Hitler Bezug nahm.
Louise Stebler kam 1924 in Zürich zur Welt. Als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Basel um. Politisiert wurde sie in ihrem Elternhaus. «Mein Vater hat sich beim Generalstreik von 1918 als Streikposten engagiert und war in der Arbeiterbewegung aktiv, besonders bei den Naturfreunden», sagt sie.
Als Elfjährige habe sie sich für Politik zu interessieren begonnen, mit 17 Jahren begann sie ihre aktive politische Laufbahn bei der Freien Jugend. Nach der Matur am Mädchengymnasium übernahm sie das Optikergeschäft ihres Vaters, das sie zusammen mit ihrem vor 24 Jahren verstorbenen Mann Jo Stebler führte. Zuerst am Fischmarkt («damals wurden dort wirklich noch Fische verkauft»), später an der Steinentorstrasse.
Und 1968 folgte schliesslich ihre Wahl in den Grossen Rat.
Ärztinnen und Rektorinnen
1966 hatten die männlichen Basler Stimmbürger den Frauen das Stimm- und Wahlrecht gewährt. Basel-Stadt hatte damit in der Deutschschweiz die Nase vorn. Am 17. März 1968 durften die Baslerinnen erstmals an den Grossratswahlen teilnehmen. Die Wahlbeteiligung war mit 47 Prozent aber nicht gerade berauschend. Auch das Resultat nicht: 14 gewählte Frauen bei einer Gesamtzahl von damals 130 Grossratssitzen, das entsprach einem Anteil von knapp 11 Prozent. Heute sind es immerhin 32 Prozent.
Fritz Latscha, damaliger Leiter der Lokalredaktion der Basler «National-Zeitung» (und späterer Verlagsleiter der «Basler Zeitung»), stellte in seiner Zeitung entsprechend fest:
«Das ist gewiss noch keine repräsentative Vertretung des weiblichen Geschlechts, wenn man davon ausgeht, dass weit über die Hälfte der Kantonsbevölkerung Frauen sind. Aber es ist gewiss ein schöner Anfang. Und wenn man die Namen der gewählten Frauen durchgeht, gewinnt man den Eindruck, die quantitativ eher bescheidene Vertretung sei dafür qualitativ grösstenteils gut bis sehr gut.»
Ob der Berichterstatter Louise Stebler in diese positive Einschätzung mit eingeschlossen hat, ist nicht bekannt. Es befanden sich aber tatsächlich einige prominente Persönlichkeiten aus dem Basler Bürgerinnentum unter den Gewählten, die wohl mit dem Qualitätsmerkmal «sehr gut» gemeint waren. Dazu gehörten:
- die Schauspielerin Getrud Walter-Gerster, besser bekannt als die unvergessliche Märlitante Trudi Gerster. Sie war eine von vier gewählten Vertreterinnen des Landesrings der Unabhängigen (LdU).
- die Ärztin Marianne Mall-Haefeli, eine der ersten Professorinnen der Medizinischen Fakultät der Uni Basel und eine von vier Vetreterinnen der LDP (sowie eine von drei Ärztinnen).
- die Gymnasiallehrerin Getrud Spiess, einzige Vertreterin der CVP (damals Katholische und Christliche Volkspartei). Sie hatte sich einen Namen als Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht gemacht. 1975 war sie erste Basler Grossratspräsidentin und zugleich erste baselstädtische Nationalrätin.
Am meisten Frauen, nämlich je vier, wurden also auf den Listen des LdU und der LDP gewählt. Die SP, auch damals stärkste Fraktion, war mit drei Frauen nicht so gut vertreten, die CVP und der VEW (heute EVP) mit je einer Frau. Bei den Radikalen (heute FDP) schaffte es keine Frau in den Rat.
Bürgerliche wählten mehr Frauen als die Linken
Auffallend ist, dass der Frauenanteil bei der Ratslinken damals um einiges kleiner war als bei den Bürgerlichen und der politischen Mitte. Das war auch den damaligen Zeitungskommentatoren aufgefallen.
Die PdA-Wochenzeitung «Vorwärts» schrieb:
«Bereits jetzt lässt sich feststellen, dass die Frauen der bürgerlichen und der konfessionell orientierten Parteien von ihrem Wahlrecht eifriger Gebrauch machten.»
Die Wählerinnen (und Wähler) hatten auf den Listen der Bürgerlichen und Mitte-Parteien auch die weitaus grössere Frauenauswahl: Der LdU stellte 33 Kandidatinnen auf, die CVP 28, die LDP 24 und die FDP 22 (allerdings bereits damals ohne Wahlerfolg). Die SP und die Gewerkschaften hatten als mit Abstand grösste Fraktion nur 19 Frauen auf der Liste, gefolgt von den kleinen Parteien VEW (17) und PdA (16).
Das SP-Urgestein Helmut Hubacher übte in der «Basler AZ» so etwas wie Selbstkritik:
«Dass in Basel vor allem die eher zur Linken gehörenden Wählerinnen noch gewisse Mühe im Umgang mit der Politik bekundeten, musste leider befürchtet werden. Hier gilt es, eher etwas vernachlässigte Basisarbeit aufzuholen.»
Louise Stebler sieht ihre Zugehörigkeit zur damals männerdominierten Arbeiterbewegung rückblickend aber nicht als Nachteil: «Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, mich als Kandidatin durchzusetzen», sagt sie. Und auch ihr Ehemann, der 21 Jahre vor ihr in den Grossen Rat gewählt worden war, habe keine Einwände gehabt – im Gegenteil: «Ich konnte ihn im Grossen Rat ablösen, was wir beide als sehr praktisch empfanden, schliesslich mussten wir ja auch noch das Optikergeschäft führen.»
In einem Interview mit der «National-Zeitung» erwiderte der damalige Grossratspräsident Peter Müller (LdU) auf die Frage, ob die Frauen einen neuen Stil in den Grossen Rat brächten:
«Ich hoffe vor allem, dass die Frauen zu den von ihnen besonders naheliegenden Fragen sprechen, Erziehung, Schule beispielsweise. […] Mit der Zeit werden aber auch andere Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden.»
Was man aus heutiger Perspektive als herablassende Sicht auf den vermeintlich eingeengten politischen Horizont der Grossrätinnen verstehen könnte, empfand Stebler damals als nicht sonderlich störend. «Die Basler Männer waren gegenüber uns Frauen loyaler als Männer aus anderen Orten der Schweiz», sagt sie. «Und wir hatten tatsächlich unsere Frauenthemen, die wir in den Grossen Rat einbrachten – Erziehungsfragen und soziale Anliegen.»
Schluss mit Kinder, Küche, Kirche
Sehr gerne erinnert sich die PdA-Politikerin an die parteiübergreifende Solidarität unter Frauen: «Wir haben im Grossen Rat wunderbar zusammengearbeitet», sagt sie. «Wenn Themen auf der Traktandenliste standen, die uns Frauen wichtig waren, trafen wir uns eine halbe Stunde vor der Sitzung und sprachen uns ab.» Etwa als die Regierung eine Überbauung auf dem Bruderholz nochmals in den Rat bringen musste, weil man den Kindergarten vergessen hatte. Stebler stellte den Zusatzantrag für ein Tagesheim, der von allen Frauen mitgetragen wurde.
Auch hier stellt sie ihre Person nicht in den Vordergrund. Unvergessen geblieben sei ihr der Moment, als ihre liberale Grossratskollegin Marianne Mall-Haefeli den Männern im Rat zugerufen habe, dass jetzt Schluss sei mit den drei «K» für Kinder, Küche, Kirche. «Die sind vor Schreck fast vom Stuhl gefallen.»
Stebler blieb mit einem Unterbruch von vier Jahren bis 1996 Grossrätin. Obwohl sie als Kommunistin am politisch linken Rand positioniert war, hatte sie im Rat nie das Gefühl, als Ausgestossene behandelt zu werden.
In ihrem Alltag ausserhalb des Parlaments bekamen sie und ihr Mann aber durchaus Aversionen zu spüren. «Einmal wurde das Schaufenster unseres Optikergeschäfts eingeschlagen», erinnert sie sich. Ein anderes Beispiel klingt paradox: Ausgerechnet das Kommunistenpaar Stebler kaufte sich in den 1950er-Jahren eine Eigentumswohnung. «Wir brauchten mit unseren Kindern eine grössere Wohnung», sagt sie. Wegen ihres politischen Engagements hätten sie bei Mietwohnungen aber einen schweren Stand gehabt.
Heute, mit 93 Jahren, ist Stebler noch immer in der Friedensbewegung aktiv. Und sie freut sich, dass eine ihrer beiden Töchter es ihr gleichtut. «Wir müssen kämpferisch bleiben», sagt sie. Grosse Sorgen bereitet ihr der Rechtsrutsch in den Nachbarländern der Schweiz. «Wir sollten nicht vergessen, wohin eine solche politische Entwicklung führen kann», sagt sie ernst. Und fügt mahnend hinzu: «Bis zu Auschwitz!»